Auszug aus Kapitel 1, von „Il Tedesco – der Deutsche“
5.
Das Ende dieser Belanglosigkeiten, über die ich noch ein paar Tage zuvor am Leuchtturm nachgedacht hatte, kam schon kurze Zeit später.
Meine Erinnerung setzt mit furchtbar grellem Neonlicht ein. Es ist ein Bild, dass ich seitdem wie eingebrannt in mir trage. Eine Frau, auf einer Liege, Menschen, die hektisch um sie herumlaufen, ihr Schläuche anlegen, Nadeln in sie stechen, aufgeregte Kommandos schreien, bis plötzlich alle zurückweichen, bis auf einen, der ihr zwei Metallteile auf die Brust hält, ein lautes Surren, ein Schlag, der Körper der Frau auf der Liege, der sich aufbäumt, wieder in sich zusammenfällt, das Ganze nochmal von vorne und plötzlich erinnere ich mich an einen Schmerz, einen so unglaublichen Schmerz, als ob der ganze Körper explodiert, und das Bild verschwimmt, und ich verschmelze mit der Frau auf der Liege.
Danach schwimme ich im Meer, sehr tief, es ist dunkel. Ich bin wie ein Fisch, ich atme das Wasser! Ich sauge es ein und aus, als hätte ich Kiemen. Es ist unglaublich, nur, dass es immer dunkler wird, und ich den Himmel über der Wasseroberfläche nicht mehr erkennen kann. Etwas später sehe ich „Zia“ (Tante) Roberta auf mich zuschwimmen. Sie ist alt, serh alt, weit über neunzig, und eigentlich schwimmt sie gar nicht gerne und ich will lächeln, aber es klappt nicht, und sie sieht mich nur an und nickt gütig, und es wirkt, als warte sie auf etwas. Ich habe viele dieser Träume, und immer haben sie mit Wasser zu tun, und irgendwann erkenne ich, dass ich ganz sicher keine Kiemen habe und Sauerstoff brauche, und ich bekomme Panik und ringe nach Luft und schreie dabei, und als ich die Augen öffne, sitze ich in einem Bett, und das Neonlicht ist grell, und ich muss mich übergeben, weil ich einen Schlauch im Hals habe, den ich zu hastig rausreisse. Während ich zitternd und keuchend im Bett sitze, kommen zwei Krankenschwestern und ein Arzt, und sie fummeln an dem Tropf herum, der in der Nadel in meinem Arm mündet und reden beruhigend auf mich ein, und ich atme ganz konzentriert, immer tief ein und wieder aus, und das mache ich so lange bis ich ganz sicher bin, dass es Luft ist, die ich atme und kein Meerwasser.
Niemand hat es bis heute geschafft, aus meinem Unterbewusstsein herauszuholen, was genau passiert ist. Ich war so dumm, die Tauchregel Nummer eins zu brechen. Ich bin alleine getaucht, wie schon so oft zuvor. Ich weiß auch noch, dass ich am alten Wrack war, aber was dort passiert ist, warum ich nicht mehr hochgekommen bin, all das liegt in der Dunkelheit des Meeres. Irgendjemand hat mich am Strand gefunden, mehr tot als lebendig und bis auf das Bild im Krankenhaus, als ich mich selbst beobachtet hatte, und die wirren Träume im Koma, setzt meine Erinnerung erst wieder ein, als ich mir diesen Schlauch aus dem Hals gerissen habe.
Vielleicht hätte ich wieder tauchen sollen, aber ich konnte mich nicht mehr dazu durchringen. Ich kann schwimmen, Boot fahren, wie früher. Ich liebe das Meer wie vor diesem Unfall, aber ich möchte nie mehr durch etwas anderes Luft holen müssen, als durch meinen Mund.

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