… die Luft war kalt und roch nach Salz und Fisch und bis ich in der Bar ankam, war ich wieder durchgefroren. Paolo begrüßte mich mit einem breiten Lächeln und stellte unaufgefordert die Espressotasse unter die Maschine. Mein übliches Frühstück besteht immer aus einem Brioche (ein Hörnchen) und einem caffè; so wie bei fast allen Italienern. Ich schnappte mir die Zeitung und setze mich an meinen üblichen Platz.
In der Nische neben mir saß ein älteres Paar, Engländer, wie ich schnell hörte. Die kamen oft ausserhalb der Saison, weil ihnen das Wetter scheinbar egal war. An zwei anderen Tischen saßen ein paar alte Männer, die in ihr Kartenspiel vertieft waren und ab und zu zur Uhr schielten, um zu sehen, ob es schon spät genug war, endlich das erste Glas Wein zu bestellen. Der Fernseher an der Decke lief, wie meist von niemandem beachtet, vor sich hin und am Tresen standen einige Männer in Anzügen, die vor dem Büro noch einen caffè tranken und fast alle in ihre Handys starrten. Am Nebentisch kämpfte das Engländerpaar mittlerweile mit Carla, um eine Bestellung aufzugeben. Wie immer verstand Carla nichts von den paar Brocken Italienisch der ausländischen Gäste, und die Gäste konnten mit ihrem venezianischen Dialekt noch weniger anfangen. Ich grinste amüsiert vor mich hin und schaute dann wieder aus dem Fenster. Die Bar liegt genau gegenüber vom Strand und wie immer gab mir das triste Aussehen einen Stich, und ich sehnte mich nach dem Sommer, wenn ich morgens schon mit leichten Sachen draussen sitzen konnte. Ganz vorne, das erste Bagno, ist das von Mario, dort hatte ich den Deutschen kennengelernt, als ich ihn am Strand fast umgerannt hatte.
Ich winkte Paolo, dass er mir noch einen weiteren caffè machen sollte. Ich hatte es nicht eilig, ins Büro zu kommen. Es gab wenig zu tun im Moment. Die Idee, dass wir alte Häuser verkaufen, hatte ganz gut funktioniert. Die Idee, dass ich diese Ruinen als geometra dann umplane und die Restaurierung begleite, hatte auch gut funktioniert. Paolo, der andere Paolo, der Freund meines Vaters, der diese Idee hatte, hat nicht ganz so gut funktioniert. Wir hatten nämlich fast nur die Häuser verkauft, die uns gehörten. Was nicht schlecht war, denn wir hatten gedacht, die sind nichts mehr wert. Aber wir besaßen nicht endlos viele davon. Und Paolo hatte versprochen, neue Häuser zu suchen. Und er hatte uns von guten Kontakten erzählt, in Deutschland, von Agenturen, die die Käufer schicken würden. Leider machte er sich nie die Mühe, Häuser zu suchen und die Kontakte in Deutschland waren auch eher nicht ganz so gut. So setzte sich unser kleines Angebot fast nur aus dem zusammen, was mein Vater über Freunde oder Bekannte angeboten bekam. Mir gefiel das alles nicht besonders, denn entweder hatte ich richtig gut zu tun, oder ich konnte gleich wieder nach Hause gehen und auf unserem Hof mitarbeiten. Nur um Zeit totzuschlagen muss ich mich nicht in ein Büro setzen. Ich blätterte mit diesen trüben Gedanken gelangweilt die Zeitung durch, der Wetterbericht war unerfreulich, die politischen Nachrichten las ich eh nie, und als ich die Zeitung gerade angewidert wegschieben wollte, fiel mein Blick auf eine Anzeige. Geometra/ Architekt gesucht, stand da. Erfahrung in Restauration erforderlich, Englisch Bedingung, Deutsch von Vorteil. Hm, ich kannte die Firma nicht, es war keine Adresse dabei, aber die Vorwahl war aus der Nähe von Ancona.
Paolo stand plötzlich mit der frischen Tasse vor mir und ich zuckte zusammen. Er grinste, tat so als hätte er nicht genau gesehen, was ich da gerade las und ging pfeifend zurück zu seiner Bar. Ancona, in den Marken, einem „Bundesland“ südlich der Emilia Romagna. Ich kannte die Gegend gut, hatte einige Freunde dort.
Als ich auf der Straße stand, peitschte mir der Regen ins Gesicht und als ich zurück in die Bar schaute, sah ich die Zeitung immer noch an meinem Platz liegen und sie schien plötzlich riesengroß, wie ein Plakat und mir ging plötzlich der Gedanke durch den Kopf, wie viele ausgebildete Architekten mit Erfahrung in Restaurierung und mit Deutschkenntnissen es hier in der Gegend wohl geben wird. Vermutlich keine drei. Und ein bisschen Abstand zu Stefano würde mir auch gefallen, und so stiess ich die Tür erneut auf, nahm mir Zeitung vom Tisch, ignorierte den grinsenden Paolo und duckte mich dann unter dem Regen, um ins Büro zu kommen.
Im Büro war nichts los und so ging ich nach ein paar Minuten wieder nach Hause zurück. Den ganzen Nachmittag lag die Zeitung auf dem Tisch und ich versuchte, sie zu übersehen. Gegen 15.00 Uhr fiel mir endgültig die Decke auf den Kopf und ich ging zum Strand. Es war den ganzen Tag nicht richtig hell geworden, die Wolken standen bedrohlich dunkel ganz dicht über dem Meer, die Wellen peitschten wütend über die Felsen. Der Strand war übersät mit Treibholz, toten Fischen und Abfall, den die Schiffe weit draußen einfach über Bord kippten. Der Sturm trieb mir Tränen in die Augen und ich torkelte mehr als ich lief. Wie immer kam ich irgendwann am Leuchtturm an. Er ist schon lange nicht mehr in Betrieb, seine Mauern sind vom Salz zerfressen und mit Algen bewachsen. Aber er steht immer da, er trotzt jedem Sturm und er gibt mir dieses beruhigende Gefühl von Sicherheit. Wenn ich meine Hände auf seine alten starken Mauern lege, erzähle ich ihm oft, was mich beschäftigt oder bedrückt; er kennt alle meine Geheimnisse, Wünsche, Sorgen, und er hat schon viele Tränen von mir aufgefangen. Hier hatte ich auch den Deutschen das letzte Mal gesehen, als ich ihn zurückgestoßen hatte. Und kurz kommt wieder dieses Gefühl von damals in mir hoch, diese Mischung aus Verzweiflung, Trauer und Wut.
Als ich auf dem Rückweg bin, weiß ich, dass ich noch heute die Nummer in der Anzeige anrufen werde…
iL Tedesco – Der Deutsche ist soeben als Buch erschienen:
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