…ich muss Stunden so dagehockt sein, ohne mich zu bewegen, ohne zu denken, leer, kaputt, ohne irgendein Gefühl. Als ich irgendwann ins Bad wankte, wurde es draußen schon ganz leicht hell, ein zarter erster Streifen Licht am Horizont. Ich sah nur ganz kurz in den Spiegel, ich wollte gar nicht wissen, wie ich aussah. Aber der Augenblick genügte. Mein Wangenknochen war so angeschwollen, dass ich aus dem einen Auge kaum etwas sehen konnte, meine Nasenwurzel verfärbte sich bereits tiefblau und ich war blut- und tränenverschmiert. Hastig versuchte ich das gröbste mit Make-up abzudecken, aber da ich mich fast nie schminke und mit einem normalen Gesicht schon bizarre Resultate erziele, verwandelte ich mich erst recht in einen Zombie. Wütend wischte ich mir alles wieder aus dem Gesicht, machte mich etwas frisch und ging dann ein paar Sachen einpacken.
Ich denke noch heute darüber nach, ob ich richtig gehandelt habe, damals. Vermutlich wäre alles einfacher geworden, wäre ich nur zu meinen Eltern auf den Hof gefahren. Mein Vater wäre noch im gleichen Moment zu Stefanos Eltern gerast – mich im Schlepptau – und hätte dort alles in Schutt und Asche gelegt. Er ist Sizilianer. Und wer seine Tochter anrührt, ist so gut wie tot. Stefano hätte für eine lange Zeit die Gegend wechseln müssen, denn, wenn meine Brüder ihn in die Finger bekommen hätten, wäre er bestenfalls mit einem ausführlichen Arztbesuch davon gekommen. Hätte ich das getan, so würde ich vermutlich heute bereits ganz entspannt auf unserem Hof wohnen und Wein anbauen. Aber ich scheute die ganze Aufregung, das Gerede, das es geben würde. Erinnerungen an den vertuschten Skandal aus meiner Jugend stiegen wieder in mir auf. Stefano wusste davon, ich hatte irgendwann den großen Fehler begangen, es ihm zu erzählen, hatte es ihm erzählen müssen – und was, wenn er aus Rache davon Gebrauch machen würde?
So packte ich Wäsche und Kleidung ein, sperrte mechanisch das Gas und den Strom ab, verriegelte alle Fensterläden, schloß sorgfältig ab und stieg in meinen Wagen. All das lief wie ein Film ab, den ich interessiert betrachtete, in dem ich aber gar nicht vorzukommen schien.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinsollte. Wenn mich irgend jemand, den ich kannte, so sah, es würde keine Stunde dauern, bis meine Familie davon erfahren würde. In so kleinen Orten ist es unmöglich, irgendetwas geheim zu halten. Ich ging verschiedene Möglichkeiten durch, ein Hotel: keine Lust, Freunde in Turin: zu weit, Pietro: ging nicht, er war Polizist, er würde Fragen stellen. Irgendwann startete ich den Motor und fuhr einfach los, denn plötzlich hatte ich Angst, Stefano würde zurückkommen. Reumütig, mit Entschuldigungen. Der Gedanke widerte mich an. Automatisch fuhr ich Richtung Autobahn, automatisch nahm ich die Richtung nach Ancona und automatisch landete ich irgendwann am Borgo. Es war inzwischen hell, aber noch sehr kalt, aber das spürte ich gar nicht. Ich ging zu meiner Lieblingsruine, setzte mich dort inmitten der alten Grundmauern einfach ins Gras und starrte in die Hügel. Mir war kalt, ich hatte rasende Kopfschmerzen, Hunger, Durst, ich fühlte mich wie ausgespuckt. Und ich war müde, so unglaublich müde. Das Bild der Hügelkette gegenüber wurde plötzlich lebendig, fing an zu rotieren und dann wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, war mir kotzübel und der Versuch aufzustehen wurde mit brutalstem Hämmern in meinem Kopf bestraft. Ich wartete ein paar Minuten. Der zweite Versuch löste wieder dieses Rotieren der Landschaft aus, und ich ließ mich einfach zurück ins Gras sinken. Es ging nicht. Das Handy. Das Handy fiel mir wieder ein. Pietros Handy. Ich fummelte mühsam Dieters Nummer rein, merkte, dass ich keinen Ton herausbrachte und schrieb ihm daher eine SMS: „hilfe borgo chiara“.
Es dauerte keine Minute bis das Telefon zu klingeln begann, ich wollte abheben, erwischte den „Abweisen“ Knopf, fluchte und dann wurde wieder alles schwarz.
Ich bekam durch einen dichten Nebel mit, wie sich jemand über mich beugte, auf mich einredete. Dazwischen Dieters aufgeregte Stimme mit seinem süßen Akzent. Zwei Männer, die mich dann unterfassten und mehr wegtrugen als führten. Dann eine Liege, weich und warm, eine Decke und ein Stich im Arm und plötzlich wurde alles schön und dieser Kopfschmerz ließ endlich nach und ich durfte schlafen.
Ein karges Zimmer, Putz der von der ehemals mintgrünen Wand bröckelt, ein großer Fensterflügel mit Milchglas. Ich kann nur auf einer Seite sehen, das andere Auge ist verbunden. Ein halber Mann, auf einem Stuhl, mehr erkenne ich nicht. Wieder schlafen.
Etwas später, das Licht im Zimmer ist anders. Viele Menschen. Ich erkenne Dieter, er ist blass, Pietro, seine Frau, ein Mann in weißem Kittel. Alle reden gleichzeitig los und ich schließe lieber die Augen.
Beim nächsten Augenöffnen fühle ich mich besser. Die Kopfschmerzen sind weg. Dieter steht vor dem Bett, lächelt.
„Ausgeschlafen?“
„Hmmh.“ Watte im Mund.
Er reicht mir ein Glas Wasser.
„Wie fühlst Du Dich? Was ist passiert?“
„Holzbalken.“ murmle ich.
„Der Polizist, dessen Handy Du hattest, hat ein paar Fragen.“
Das war klar. Pietro wusste, dass ich geschlagen worden war. Als Polizist sah er das sofort.
Er kam kurze Zeit später, fragte natürlich erst wie es mir ginge, ob ich etwas bräuchte und kam dann ganz plötzlich auf den Punkt:
„Wer hat das getan?“
„Holzbalken. Ich hab nicht aufgepasst.“
Er sah mich lange prüfend an. Es arbeitete in ihm.
„Chiara……?“
Ich hob die Hand.
„Pietro, bitte. Schreib in Deinen Bericht einfach, ich bin gegen einen Holzbalken gelaufen. Auf meiner eigenen Baustelle, als ich etwas kontrollieren wollte.“
Er setzte mehrmals an, brach ab, kämpfte mit sich. Schließlich nickte er.
„Ok, du musst es wissen. Also ein Holzbalken. Aber sag diesem Mistkerl, noch einmal, dann kauf ich ihn mir!“
Noch einmal, lieber Pietro, dachte ich, noch einmal, und Du kannst eine Nummer ziehen, vor Dir sind dann Papa und meine drei Brüder dran.
Am Sonntag erklärte mir die Schwester, es sei kein Arzt da, und ohne Arzt könne sie mich nicht gehen lassen. Ich nickte verständnisvoll, wartete bis sie aus dem Zimmer war und wählte Dieters Nummer…
iL Tedesco – Der Deutsche ist soeben als Buch erschienen:
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