Ich bin aufgewachsen in der Nähe von Ravenna, auf einem Bauernhof. Wir bauen hauptsächlich Wein und Oliven an, Tiere halten wir nur für den Eigenbedarf. Wir besitzen sehr viel Land, das bis in die Hügel hinter Ravenna reicht. Von meinem Zuhause aus ist man in gut zehn Minuten in Ravenna und in fast der gleichen Zeit am Meer.
Unser Haus ist fast dreihundert Jahre alt, sehr groß und sehr sehr verwinkelt. Wie alle klassischen Natursteinhäuser, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, ist das Haus über die Jahre immer wieder erweitert und angebaut worden. Damals ging man nicht in den Baumarkt und es gab natürlich auch keine Normen. Baute man ein neues Zimmer an, so nahm man, was verfügbar war, so hat auch unser Haus überall verschieden große Fenster, kleine Türen, große Türen, niedrige, welche mit zwei Flügeln – alles wild gemischt. Da das Haus an einem Hang steht, gibt es verschiedene Eingangsebenen, auch innen sind die Räume auf verschiedenen Höhen gebaut, wenn man von einem Flügel in den anderen läuft muss man teilweise zwei oder dreimal kleine Treppen rauf oder runter gehen. Ich liebe unser Haus und lausche nachts oft seinen Geschichten, ich habe bei diesen alten Häusern immer das Gefühl, dass sie über die Jahrzehnte alles speichern, was in Ihnen passiert ist – und das ist in dreihundert Jahren eine Menge. Es wurden viele Kinder in ihm geboren und ebenso sind viele Menschen aus unserer Familie im Lauf der Zeit darin gestorben, es wurde gestritten, gefeiert, gelacht und geweint. Es wurden Hochzeiten gefeiert und Kinder gezeugt. Ein Cocktail aus Leben, Tod und Emotionen.
Als mein Studium in Ravenna begann, habe ich mir in der Stadt eine kleine Wohnung gesucht, um zu Fuß zur Uni gehen zu können. Dort habe ich eine knappe Woche gewohnt, dann wurde es mir zuviel. Von meinem Schlafzimmer aus kann ich in die sanften Hügel der Emilia schauen. In Ravenna blickte ich auf die Hauswand gegenüber. Zuhause sehe ich die weiten Felder, Wiesen und die Weinstöcke, in Ravenna hatte ich ein paar Blumenkübel auf dem Balkon gegenüber.
Wir besitzen auch eine kleine Viletta direkt am Meer. Im Gegensatz zu unserem Hof ist sie winzig. Im Erdgeschoss ist ein kleines Wohnzimmer und eine offene Küche, vor und hinter dem Haus eine kleine Terrasse, damit man mit dem Schatten mitwandern kann. Im ersten Stock sind zwei Schlafzimmer und ein winziges Bad. Das Haus ist weiß gestrichen und die Farbe blättert ab seit ich denken kann, die salzige Luft und die hohe Feuchtigkeit vertragen sich nicht mit Putz und Farbe. Aber mehr braucht man nicht, denn am Meer lebt man ohnehin fast nur draußen.
Ich habe viele schöne Erinnerungen an dieses kleine Häuschen. Von unserem Hof aus ist man in gut zehn Minuten am Strand – an normalen Tagen. Ab Juni, wenn die Touristen am Samstag ihren Anreisetag haben und am Sonntag ganz Italien ans Meer strömt sind die wenigen Zufahrtsstraße schnell verstopft und man kann ganz locker eine Stunde im Stau stehen. So sind wir Kinder und meine Mutter oft am Freitagabend in das Haus gefahren und haben im Sommer das ganze Wochenende dort verbracht. So konnten wir um sechs Uhr den Sonnenaufgang bestaunen und um halb acht die ersten in der Strand-Bar sein und in aller Ruhe Frühstücken.
Als ich in der Wohnung in Ravenna saß, fielen mir diese Zeiten wieder ein und ich packte meine Sachen und zog in das Haus am Meer. Lieber fuhr ich jeden Tag die paar Minuten, aber ich fühlte mich wieder frei und sah von meinem Bett aus jeden morgen das Meer – wie damals, als ich ein Kind war.