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Archive for the ‘ARBEIT – was ich tue’ Category

Enrico ist circa 70 Jahre alt.
Ich treffe ihn in einer Bar am Meer. Er hat am Telefon sehr geheimnisvoll getan. Eine „Immobiliensache“, mehr könne er am Telefon nicht sagen. Der Treffpunkt ist nur ein paar Orte weiter von mir. Wie sich später herausstellt, darf ich den genauen Ort aber nicht nennen. Sagen wir, es ist irgendwo zwischen Lido di Dante und Bellaria, an der Adriaküste.
Es ist früh am morgen, die Bar ist leer, bis auf einen Gast. Enrico. Er trägt eine moderne Sporthose, ein buntes T-Shirt. Sein Gesicht ist vom Wind, der Sonne, dem Salz und vom Leben in tiefe Falten gelegt. Wie ein alter Lederkoffer, der stolz die Schrammen und Spuren vieler Abenteuer zur Schau trägt. Er hat eine dieser Riesenbrillen auf, wie sie alte Männer in Mafiafilmen tragen, diese überdimensionalen Horngestelle mit den leicht getönten Gläsern. Mein Blick schweift kurz zur Bar, auch hier niemand zu sehen. Enrico schmunzelt, steht auf und sagt mit dieser leisen, krächzenden Stimme, die Marlon Brando berühmt gemacht hat: „Wir sind allein, ich habe Mario spazieren geschickt.“
Er geht wie ganz selbstverständlich hinter die Bar und bereitet mir an der Maschine einen caffè. Ich bin verwirrt, nehme die Tasse, setze mich zu ihm an den Tisch. Er schiebt mir ein Päckchen Zigaretten zu, zündet sich selbst eine an. Ok, wir sind alleine hier, und ich grinse kurz in Richtung des Schildes an der Wand, das in jedem öffentlichen Gebäude vorgeschrieben ist. Neben der durchgestrichenen Zigarette steht auch der gesamte Gesetzestext, mit allen Strafen, die auf die Nichteinhaltung drohen. Ich bin sicher, noch kein Italiener hat sich das je durchgelesen.
Enrico taxiert mich lange, seine Augen sind jung und klar, schließlich nickt er, drückt seine Zigarette aus.
„Wie geht es Deinem Vater?“ wieder diese tiefe leise Stimme.
„Äh, gut.“
„Man hat mir gesagt, ich solle mich an euch wenden.“
„Äh, ok?“ ich verstehe nur Bahnhof.
„Ich habe da vielleicht was für euch…“

Und dann beginnt er zu erzählen.

Enrico ist 6 Jahre alt.
Er lebt mit seinen Eltern in Norditalien, im Land, in der Nähe von Reggio Emilia. Sein Vater arbeitet bei der Post und das Gehalt reicht gerade so, die Familie über die Runden zu bringen. Sie besitzen kein Auto, Enrico trägt die alten Sachen seiner größeren Geschwister und die Familie lebt in einer kleinen Wohnung in einem schäbigen Haus, das schon vor dem Krieg nicht mehr schön war. Die Sommer hier in der Po-Ebene sind heiß und feucht, die Wohnung stickig und, wenn das Thermometer über Monate auf über 30 Grad steigt, ist es fast nicht auszuhalten. Die Sommerferien, die in Italien drei Monate dauern, sind endlos und die Familie kann sich keinen Urlaub leisten.
Doch es gibt eine Einrichtung, die für diese Familien geschaffen wurde. Der Staat und auch einige große Firmen haben an den Stränden direkt am Meer Kindererholungsheime gebaut. Hier können Kinder aus dem ganzen Land einen Teil ihrer Sommerferien verbringen, wenn sie aus Familien stammen, deren Einkommen nicht für einen Urlaub reicht.
Der Sommer, in dem Enrico gerade zu Beginn der Ferien 6 Jahre alt geworden ist, ist einer der heißesten seit Jahren. Aber Enrico hat Glück, er darf ans Meer. Und so steht er eines Morgens im Juli aufgeregt am Bahnhof. Er war noch nie von seiner Familie getrennt, er hat Angst, aber er ist auch neugierig, endlich einmal das Meer zu sehen, an dem er noch nie zuvor war.

Diese Ferienheime sind riesige Gebäude, die zum Teil mehreren hundert Kindern Platz bieten. Damals war das Land am Meer noch billig, es gab wenige Hotels und Platz spielte keine Rolle. Wo heute Hotels dicht gedrängt die Küsten Italiens verschandeln, hatten diese Häuser riesige Grundstücke für sich allein.

Enrico erlebt den schönsten Sommer seines jungen Lebens. Morgens, von der Sonne geweckt, verbringt er lange heiße Tage mit vielen anderen Kindern am Strand. Die Erzieher, junge Studenten, die sich etwas dazuverdienen, haben wenig Interesse an Regeln und Aufsicht, sie sind selbst viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Sommer am Meer zu genießen, die Kommilitoninnen zu beeindrucken und sich nachts heimlich gemeinsam im Meer und am Strand zu vergnügen.

Enrico ist in einem großen Heim gelandet, über drei Etagen erbaut, mit gewaltigem Garten, der viel Raum bietet, für Fußballspielen, sich Verstecken und allerlei anderer Dinge, die Kinder in dem Alter so tun. Die Betreuer haben eigene Zimmer, die Kinder sind in gemeinschaftlichen Schlafräumen untergebracht. Regeln gibt es, wie gesagt, fast keine. Bis auf eine, die wird den Kindern immer wieder eingehämmert. Keiner darf den dritten Stock betreten. Die Treppe endet im zweiten. Der Aufgang in den dritten Stock ist zugemauert. Auch von außen ist nichts zu sehen, alle Rollläden sind verschlossen. Unter den Jungs gibt es die wildesten Spekulationen, was im dritten Stock zu finden wäre. Von Vampiren wird gemauschelt, Geistern, heimlichen Gefangenen, Goldschätzen, Waffenlagern. Keine Theorie ist zu absurd, als dass sie nicht sofort als wahrscheinlich und wahr angesehen wird.
Enrico läßt das keine Ruhe, immer wieder schleicht er an der zugemauerten Wand umher, prüft sie fachkundig auf geheime Mechanismen, klopft sie ab, drückt minutenlang sein Ohr darauf, überlegt, plant, verwirft verschiedene Möglichkeiten, irgendwie hinter das Geheimnis zu kommen. Drei Tage vor dem Ende seiner Ferien spielen sie Verstecken im Garten. Und als er besonders tief im hinteren Teil des Gartens ins Gebüsch vordringt, findet er eine alte Holzklappe. Sie ist unverschlossen und als er sie öffnet, gibt sie den Blick auf eine Kellertreppe frei. Er steigt hinab und tastet sich durch den Raum, denn er vermutet, von hier ins Erdgeschoss zu kommen und so die anderen auszutricksen. Die Treppe, die nach oben führt, ist düster, er versucht mitzuzählen, wo er sich befindet und verliert schnell den Überblick. Das Treppenhaus hat schmale Fenster, jedoch sind alle Jalousien heruntergelassen, so dass nur wenig Tageslicht durch die Ritzen fällt. Der Boden ist schmutzig und in den schräg durch die Lamellen fallenden Sonnenstrahlen tanzen kleine Staubkörner wie winzige Diamanten in der Luft. In jeder Etage will er zurück in die bekannten Räume, aber es gibt nirgends eine Türe, bis, ja, bis er plötzlich ganz oben angelangt ist. Sein Herz beginnt zu rasen, denn ihm wird plötzlich klar, dass er in der dritten Etage sein muss. Die Türe ist nur angelehnt, er stößt sie mit dem Fuß auf, lauscht, und hört…..nichts.

Ein langer Gang, düster, schmutzig, von den Wänden blättert der Putz, der Boden übersät mit Abfall. Der Grundriss ist identisch mit der Etage darunter, er betritt den ersten Schlafsaal rechts, er ist eingerichtet wie unten, circa 30 Betten, noch bezogen, die Decken verstaubt, einige zerschlissen. Er bildet sich plötzlich ein, Stimmen zu hören, eine Bewegung am Ende des Zimmers zu sehen. Seine anfängliche Beklemmung wird zu Panik. Er läuft aus dem Zimmer in Richtung Treppe. Was er vergisst ist, dass er von der anderen Seite hier hoch gekommen war, somit ist der Grundriss, den er in den letzten vier Wochen verinnerlicht hatte, seitenverkehrt. Statt zurück zu der Treppe zu laufen, die er hochgekommen war, entfernt er sich immer mehr. Als er schließlich die Treppe erreicht, ist es die, die von unten zugemauert ist. Das bemerkt er aber erst, als er sie schon hinuntergelaufen ist und plötzlich auf der anderen Seite der Mauer steht. Sein Herz rast, er dreht sich um, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und sieht hinauf. Er ist sich jetzt sicher, dass er Stimmen hört, Schritte wahrnimmt. Auf allen vieren krabbelt er die Treppe wieder hinauf, lugt über den obersten Absatz.
Er kann nichts erkennen, es ist zu düster, die Sonne ist schon zu tief, alles ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Wie in Trance torkelt er den langen Gang zurück. Die letzte Türe noch zu seiner Rechten, dann hat er die alte Treppe erreicht. Ein Geräusch, er bleibt stehen, dreht den Kopf langsam hin und blickt in das Zimmer. Er weiß nicht, wie lange er dort hinein schaut. Er kann sich nicht mehr bewegen. Bis plötzlich irgendetwas in seinem Kopf Klick macht. Da rennt er schreiend die Treppe hinunter, schrammt sich im Keller das Bein an einem alten Schrank und steht irgendwann wieder im Freien an der alten Falltüre.

Er bricht plötzlich ab, ich schaue auf die Zigarette in meiner Hand, sie ist längst ungeraucht runtergebrannt und ich werfe sie achtlos in den Aschenbecher.
„Was hast du gesehen, Enrico?“, ich duze ihn einfach.
Er schüttelt nur den Kopf, atmet tief durch, seufzt, zündet sich eine Zigarette an.
„Ich wollte gar nicht so viel darüber erzählen.“
„Warum erzählst du mir überhaupt davon?“
Er lehnt sich zurück, lächelt.
„Ich habe mich damals verliebt. In das Meer. Sobald ich volljährig war, kam ich zurück. Die Ferienheime wurden mit der Zeit geschlossen, der Staat musste sparen, und wie überall spart er zuerst an denen, die sich am wenigsten wehren können, den Kindern.“
„Warst du nochmals dort?“, ich frage es, obwohl ich die Antwort kenne.
„No!“
„Was hast du damals gesehen?“
Wieder Kopfschütteln.
„Ich gehe oft daran vorbei, aber ich war nie mehr drin.“
„Warum erzählst du mir das alles?“

Und dann wird’s interessant. Die Heime wurden alle nach und nach geschlossen. Natürlich dachte man damals, das wäre nur vorübergehend. Also lies man die Rollläden runter, vernagelte die Türen und stellte den Strom ab.
Aber niemand hatte mehr ein Interesse daran, diese Häuser wieder in Betrieb zu nehmen. Schnell war alles veraltet, zu runtergekommen, die Sanierung viel zu teuer. Die Zeit, die Stürme am Meer, das Salz in der Luft. Alles Gift für Häuser. So fing man an, die Fenster teilweise zuzumauern, um die Substanz noch irgendwie zu retten. Aber, das alles brachte nichts, die Häuser verfielen immer mehr. Und so sitzt der Staat auf alten riesigen Grundstücken in allerbester Lage, direkt am Meer. Unglaubliche Immobilienwerte. Und Enrico hatte einen Kontakt geknüpft. Eines dieser alten Ferienheime stünde zum Verkauf. Unter der Hand, die Comune würde diesen Besitz gerne versilbern. Und Enrico kannte die richtigen Leute, um zuzuschlagen, bevor eine öffentliche Ausschreibung gemacht würde.
„Kann ich es anschauen?“, ich erhob mich schon halb bei der Frage.
„Sicher!“, er bewegte sich nicht.
Ich ließ mich wieder zurücksinken. „Wann?“
Er nickte quer über die Straße, auf ein riesiges altes Gebäude. Daher also diese Bar als Treffpunkt.
„Sieh’s dir heute Abend an, alleine, es soll niemand mitbekommen, dass sich jemand dafür interessiert.“
„WAS hast du damals gesehen?“, versuchte ich es nochmal. Wobei, eigentlich glaubte ich die Antwort längst zu kennen.
Sein Lächeln erstarb, sein Blick drang tief in meine Augen, ein ganz kurzes Aufblitzen, als er fand, was er darin gesucht hatte.
„Sieh’s Dir an.“
Ein Mann betrat die Bar, tat so, als würde er mich nicht bemerken und verschwand sofort im hinteren Zimmer. Wohl Mario, der Besitzer. Und somit das Signal, aufzubrechen.

Freitag Abend. Die ersten Italiener sind bereits für das traditionelle Wochenende am Meer eingetroffen, es wird laut und voll im Ort. Ich sitze mit Freunden in einer Bar. Ich habe sie vorgeschlagen, denn sie ist relativ nah an dem alten Kinderheim. Ich bin unruhig, weil ich es kaum erwarten kann, endlich das Haus genauer anzusehen. Noch ist es hell, die Dämmerung kommt langsam. Langsamer als sonst, wie ich finde. Ich muss noch kurz was erledigen, habe ich den anderen gesagt, aber mich nicht näher darüber ausgelassen. Sie denken vermutlich, ich treffe jemanden, und da ich Enrico mein Wort gegeben hatte, niemandem etwas zu erzählen, ist mir das ausnahmsweise ganz recht.

Gegen 22.00 Uhr verschwinde ich unauffällig und fahre das kurze Stück aus dem belebten Teil des Orts hinaus. Die Bagni (Strandbäder) werden hier weniger, die Abstände etwas grösser und als ich auf Höhe von Marios Bar bin, biege ich in eine Seitenstraße ein. Ich stelle die Vespa an einer dunklen Stelle ab und nähere mich dem alten Gebäude von der Rückseite. Es ist bald Vollmond und er ist schon hell genug, um das gesamte Gelände in ein unwirkliches fahles Licht zu tauchen. Erst von der Rückseite wird mir die gesamte Größe des Hauses so richtig bewußt. Der Hauptteil wird von zwei langen Seitenflügeln flankiert, die, vom Meer abgewandt, einen unglaublichen Innenhof bilden. Die Jalousien sind heruntergelassen, teilweise aber mit der Zeit auch aus ihren oberen Verankerungen gerissen und hängen an manchen Fenstern schief in den verrosteten Führungen. Manche Fenster sind auch zugemauert, aber es ist kein Muster zu erkennen, nachdem die Maurer dabei vorgegangen sind. Der morbide Charme dieser „großen alten Dame“, wie ich das Haus insgeheim ehrfürchtig nenne, ist so beeindruckend, dass ich mich von dem Anblick kaum lösen kann.
Ich überschlage in Gedanken die ungefähren Flächen, die man daraus für ein Hotel oder ein Apartmenthaus bilden könnte, und als ich diese Quadratmeter in Baukosten umrechne, stockt mir der Atem.

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Wie Enrico mir gesagt hatte, ist der Zaun an einigen Stellen aufgerissen und ich betrete das Gelände. War gerade noch das Rauschen der abendlichen Brandung zu hören gewesen, ist es hier plötzlich still. Zu still. Nichts ist zu hören, und ich kann erst nicht verstehen, was genau fehlt. Ich gehe von hinten zum Hauptteil, dort ganz nach rechts und finde sofort die kleine Türe, wohl ein Seiteneingang. Drei bröckelnde Stufen führen hinauf zum Eingang, und mir wird klar, warum Enrico immer vom dritten Stock gesprochen hatte. Das Erdgeschoss ist im Hochparterre, somit hatte er es gleich als erste Etage gezählt. Der Schlüssel liegt ebenfalls an der versprochenen Stelle, rechts von der Treppe, unter einem Stein.
Ich bilde mir ein, ein Knacken hinter mir zu hören und drehe mich hastig um, aber es ist nichts zu sehen. Und jetzt merke ich endlich, was hier fehlt. Geräusche! Hier müsste es rascheln, knacken, wispern, wuseln. Das ist ein Paradies für alle möglichen Tiere. Und es ist ungewöhnlich, dass scheinbar keine da sind.
Die kleine Türe führt direkt in die ehemalige Küche. Ich hatte keinen Platz, meine MagLite einzupacken und bin nur mit einer winzigen LED-Lampe ausgerüstet. Die alten Öfen schimmern matt im Schein der Lampe, alles was aus Holz war, Schränke, Möbel, die Arbeitsflächen, sind nicht mehr da. Ich bewege mich vorsichtig über den mit Abfall übersäten Boden durch den Speisesaal und lande schließlich in einem großen, endlos langen Flur. Unzählige Türen gehen zu beiden Seiten ab. Es riecht unglaublich muffig und abgestanden hier drin. Zudem ist es schwül und stickig und ich merke, wie mir der Schweiß ausbricht. Es ist totenstill im Haus und ich merke, wie ein Gefühl der Beklemmung in mir hochkriecht.
Ich kenne dieses Gefühl, es beschleicht mich oft in alten verlassenen Ruinen und ich kann es ganz gut ignorieren. Ich schaue nicht in die einzelnen Zimmer, letztlich würde man das Gebäude ohnehin komplett abreißen müssen, oder es zumindest völlig entkernen, daher ist die momentane Aufteilung völlig bedeutungslos. Ich möchte nur überprüfen, ob meine Schätzung von außen ungefähr hinkommt, was die Flächen anbelangt. Die Treppe in den zweiten Stock übersehe ich fast, weil hier ein Schuttberg auf den ersten Stufen abgeladen wurde. Kurze Hosen, ein Top, Sandalen. Ganz tolles Outfit für so eine Aktion, aber ich klettere trotzdem darüber und rutsche auf der anderen Seite unsanft wieder herunter. Dabei kommt der Haufen in Bewegung, und einige seitlich gelagerte Ziegel poltern herunter und ich ziehe gerade noch die Füsse weg, bevor sie zerquetscht werden.
Wieder zurück zu klettern wird schwierig. Scherben, Latten mit Nägeln, zerbrochene spitze Ziegel. Ich brauche irgendwas, um das aus dem Weg zu Schaufeln.

Ich bin schon oft in alten Ruinen in solchen Situationen gewesen, das ist nichts, was mich aufregt, meine Neugier bringt mich regelmäßig in so einen Mist. Was mir eher zu schaffen macht, ist die zunehmende Beklemmung, die sich immer mehr in mir breit macht. Ich schwitze, bin völlig verdreckt und…ja, und ich habe plötzlich eine Scheißangst. Ich steige die Treppe nach oben und finde dort die zugemauerte Wand, von der Enrico mir erzählt hatte. Kurz taucht ein Bild in mir auf, wie der kleine Enrico hier an der Wand herumschlich, aufgeregt, um das Geheimnis der dritten Etage zu lüften. Und dann fällt mir noch etwas ein. Das andere Treppenhaus, von dem er erzählt hatte. Es ist unwahrscheinlich, dass es ausschließlich in den obersten Stock führt, sicher hat er damals die Zugänge in den einzelnen Etagen nur nicht gesehen. Ich spiegle in Gedanken schnell den Grundriss und gehe in die Richtung, aus der er damals gekommen sein muss, als er einen Stock höher war. Links und rechts zweigt Tür nach Tür vom Gang ab, manche sind offen, manche fehlen ganz, einige sind geschlossen. Die Luft ist hier noch schlechter als unten und ich keuche, um den Rest an Sauerstoff aus diesem Geruchsgemisch aus Abfall, Alter und Verfall herauszufiltern. Die Beklemmung weicht langsam dem Gefühl von Panik, die, wie mir klar ist, völlig irrational und unangebracht ist. Aber irgendetwas ist hier und ich weiß von anderen Situationen, dass mir nicht mehr allzuviel Zeit bleibt, in der ich diese Panik noch einigermaßen kontrollieren kann.
Ich biege um zwei Ecken, vermeide es, in die offenen Türen zu sehen, bin mir sicher, dass ich hier und da etwas Leises murmeln höre und dann ist der Gang fast zu Ende und ich überschlage nochmals den Grundriss, gleiche ihn mit dem ab, was ich von außen gesehen habe und was Enrico erzählt hatte. Es bleiben zwei Türen, die in Frage kommen, in das andere Treppenhaus zu führen und ich versuche die erste zu öffnen, die aber verschlossen ist und werfe mich fast gegen die zweite, die sofort auffliegt und mit einem lauten Knall gegen die Wand schlägt. Das Treppenhaus! Ich bin so erleichtert, dass ich kurz kichern muss, ignoriere ein vermeintliches Rascheln hinter mir, verwerfe den schwachsinnigen Gedanken, nach oben in die dritte Etage zu gehen und haste die Stufen nach unten. Bitte nicht durch den Keller, bitte nicht durch den Keller, ist alles, was ich denken kann und zähle die Stufen und Absätze automatisch mit. Und weil ich nicht mehr sechs Jahre alt bin und Architektin, verzähle ich mich auch nicht so wie damals Enrico und mache rechtzeitig Halt, als ich im Erdgeschoss sein müsste. Ich leuchte die Wände ab und sehe sofort die Türe, die, wie ich vermutet hatte, in jedem Stockwerk ist. Ein Schieberiegel hält sie von innen zu, daher kam man von außen damals hier nicht rein, das Treppenhaus zu verlassen ist aber kein Problem. Ich lande wieder in der alten Küche, sprinte durch den Raum, erreiche endlich die Türe und lehne mich draußen schwer atmend an die Hauswand. Ich würde töten für eine Zigarette, aber die liegen im Lokal und so bleibt mir nur, die Türe zu verschließen und langsam und erschöpft zurück auf die Straße zu gehen.

Draußen drehe ich mich um und blicke zurück, ich versuche zu errechnen, wo genau damals Enrico im obersten Stock vor der offenen Türe gestanden haben muss, wo das Zimmer ist, in das er so lange blickte und das ihn so verstörte, dass er bis heute nicht darüber sprechen kann, was er damals sah. Ich folge den Gebäudelinien mit den Augen, gehe meinen Weg von eben in Gedanken nochmals durch, mache ein paar Schritte nach vorne, wieder zurück, wie ein Tänzer, der eine Choreographie einstudiert. Und schließlich bin ich sicher, welches Zimmer es gewesen sein muss. Das Fenster ist eine klaffende Wunde, das Rollo oben ausgerissen und halb herunter gesackt. Das Fensterglas fehlt, der Rahmen ist geborsten. Ein dunkles, tiefschwarzes Loch. Wie ein Portal, geht mir durch den Kopf. Ich schaue nach oben, versuche etwas zu erkennen, was mir auch gelingt, aber es ist nichts, was man mit den Augen sieht. Deswegen konnte Enrico es auch bis heute nicht beschreiben. Ich hatte mir das fast gedacht. Noch lange stehe ich so da, unbewegt, äußerlich, und irgendwann nicke ich zum Abschied, glücklich jetzt, und fahre zurück zu meinen Freunden.

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Der Morgen, als mein Vater und Paolo beschlossen, alte Bauernhäuser an deutsche Kunden zu verkaufen, ist nun schon ein paar Jahre her. Inzwischen bin ich geometra, das ist eine Mischung aus Bautechniker und Architekt. Ich bin berechtigt, die Planung für Restaurierungen zu erstellen und auch bei der Gemeinde zugelassen, diese Pläne als Bauanträge einzureichen. Ich liebe diese Arbeit, besteht sie doch zum größten Teil darin, in alten verfallenen Ruinen herum zu steigen, diese zu vermessen, zu fotografieren und später die Umbauplanung zu erstellen, um diese alten Häuser wieder mit alten Materialien liebevoll zu restaurieren. Ich würde euch einladen, einen Tag mit mir in den Hügeln zu verbringen, wo ich drei neue Häuser begutachten soll. Lust dazu? Dann los.

…Der Morgen ist grau in grau, und der gestrige Abend hat sich als wirrer Traum in meinem Kopf festgesetzt, als ich aufwache. Wie fast immer weckt mich meine innere Uhr um 6.00 Uhr. Das ist schön, wenn ich der Sonne zusehen kann, wie sie aus dem Meer klettert, heute ist nichts von ihr zu sehen. Ich werde heute nachholen, was ich die letzten Tage wegen der Hitze immer wieder aufgeschoben habe und ein Stück ins Land fahren, um drei neue Häuser anzusehen, von denen wir gehört haben.

Ich nehme die Superstrada in Richtung Ancona und fahre eine Weile mit Blick aufs Meer entlang. Bei San Mauro biege ich ab in Richtung Hügel. Ich will zuerst nach Savignano, das schon etwas höher liegt. Ich mag diesen Ort sehr, eine so romantische Fußgängerzone die auf der großen Piazza endet. Ich setze mich dort in die Bar und bestelle mir einen caffè und ein Hörnchen, als zweites Frühstück. Ich diskutiere mit dem Besitzer ein wenig über das grässliche Wetter, und weil er behauptet es wird regnen, sage ich das Gegenteil, und drei alte Männer mischen sich begeistert in die Diskussion ein. Sie freuen sich über die Abwechslung und gewinnen so ein wenig Zeit bis die nächste Runde Wein für den viel zu frühen aperitivo bestellt werden muss.

Hinter dem Ort steigt die Straße sofort steil an und ich schraube mich die Serpentinen hoch in die Hügel der Emilia Romagna. Ich suche die erste Abzweigung und als ich sehe, dass die letzten Kilometer zum ersten Haus geteert sind, ahne ich schon, dass das nichts sein wird. Zu den alten Ruinen, die wirklich gut liegen, führen keine Teerstraßen. Und richtig, als ich an der Adresse ankomme, sehe ich als erstes Rollladen! Absolut daneben, das Haus ist ein klassisches Betonhaus aus den Siebzigern, völlig uninteressant, so dass ich nur kurz halte, das Navi neu füttere und direkt zum nächsten Haus weiterfahre.

Es gibt drei Arten von Straßen hier in den Hügeln, einmal die geteerten Straßen, die meist voller Schlaglöcher sind, dann die strade bianche, die weißen Straßen, das sind gekieste Wege, die ebenfalls von den Gemeinden gepflegt werden. Diese Straßen durchziehen das Hinterland wie kleine Adern und verbinden meist auch noch den abgelegensten Hof. Sie sind aus weißem Kies, da Teer im Sommer bei uns viel zu weich wird, wenn die Sonne draufknallt und die schweren Traktoren die Teerstraßen in kürzester Zeit zerstören. Die dritte Art sind die Privatstraßen, die zu ganz abgelegenen Häusern führen, sie sind meist bessere Feldwege. Es gibt nichts Teureres, als eine Privatstraße zu unterhalten.

Das Navi hat schon lange aufgegeben und ich fahre eine Straße zum dritten Mal auf und ab, als ich endlich die beschriebene Abzweigung entdecke. Es geht in einen Hohlweg, steil nach oben. Nach der ersten Kurve endet die feste Kiesdecke bereits und der Weg ist nun mit losem Split bedeckt. Das ist tückisch. Unter der dünnen Kiesdecke lauert fango, so heißt diese Lehmart bei uns, die in Verbindung mit Regen zu Schmierseife wird, fast tonartig, eine feste, wasserundurchlässige Schicht, in die es kein Reifenprofil schafft, einzudringen. Daher haben wir in den Weinbergen auch meist Raupenfahrzeuge im Einsatz, ein Traktor kommt oft nicht weit. Ich lege die Geländeuntersetzung ein und streichle das Gaspedal. Wenn das Auto stehen bleibt, kommt man nicht mehr wieder los. Die großen Geländereifen schieben die Kiesschicht locker beiseite und schlittern auf der Lehmschicht langsam nach oben. Nach der nächsten Kurve öffnet sich der Hohlweg zur Hangseite, es geht ca. 150 Meter steil nach unten, links ragen schroffe Felsen aus der Wand. Der Blick ist atemberaubend, die Wolken hängen tief, der Blick ins Tal ist verwehrt, aber einige der Hügelspitzen ragen aus den Wolken heraus und bieten ein wundervolles Schauspiel. Der schwere Wagen rutscht immer wieder zur Seite weg und ich versuche ihn, fast im Standgas, alleine kriechen zu lassen. In Gedanken kalkuliere ich bereits die Kosten, dieses Stück Straße wieder befahrbar zu machen und übersehe den großen Brocken, der aus dem Boden steht und fahre halb über ihn drüber, woraufhin das Auto beginnt parallel zur Straße Richtung Abhang zu gleiten. Ich nehme das Gas ganz weg, stelle die Vorderräder quer und hoffe, dass der Wagen rechtzeitig anhält, während der Hang in Zeitlupe auf mich zukommt. Ich schnalle mich prinzipiell nie an beim Fahren und denke noch, dass das vielleicht ein Fehler sein könnte, da bleibt der Wagen endlich stehen. Ich nehme den Gang raus, ziehe die Handbremse bis zum Anschlag, warte bis mein Puls etwas runter ist und das Adrenalin verfliegt. Dann steige ich aus, ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter. Dieser fango ist unglaublich. Ein Kind wäre in der Lage, ein Zweitonnen Auto alleine von der Stelle zu schieben. Der Wagen hängt hinten rechts an einem Felsbrocken fest. Was für ein Scheißtag! Ich würde zu gerne gegen die Karre treten, aber ich habe Angst, dass ich sie damit den Hang runter schieben könnte. Ich werde das Auto nie über den Felsen fahren können, ohne zu riskieren, den Hang herab zu stürzen, rückwärts kann ich nicht fahren, weil ich dann ins Rutschen kommen werde und Hilfe kann ich keine holen, weil hier kein Handyempfang ist. Ich gehe die Straße ein Stück weiter und sehe in einiger Entfernung das Haus, das ich suche. Ich funkle es böse an und rauche die nächste Zigarette. Ich werde mich rauswinschen müssen, aber es gibt nirgends etwas, wo ich das Seil festmachen könnte, das heißt, ich muss einen Anker eingraben und es wird mich endlos Zeit kosten. Ich hab schon oft Anker vergraben und mit Seilwinden gearbeitet, wir brauchen das häufig in den Weinbergen, an besonders steilen Stellen, aber alleine und in den harten Lehmboden ist es eine Strafe. Ich komme mit dem kleinen Notspaten kaum in den Boden rein und werde so wütend, dass ich irgendwann den großen „high lift“ aus dem Auto hole und den Anker damit in den Boden dresche. Davon wird er zwar ziemlich hinüber sein, aber ich habe eh nicht vor, das Ding noch mal auszugraben. Mit der Winde ist es relativ einfach, nach oben zu kommen, kritisch ist der erste Moment, als sich der Reifen wehrt, über den Felsen zu kommen, aber als er gerade so drüber ist und wieder zur Seite rutscht, arbeitet die Winde richtig gut und zieht in gerade hoch. Als ich beim Haus ankomme, sehe ich aus wie ein Schwein, komplett voll Schlamm, verschwitzt, die Haare wirr im Gesicht und eine Stelle an meiner Hand blutet. Aber ich bin hier allein, keiner sieht mich so.

Das Haus ist eine Offenbarung. Ein klassisches altes Herrenhaus, zwei Stockwerke, dazu ein Seitenflügel, der irgendwann angebaut worden ist. Es steht auf einer Anhöhe, ganz alleine, vom Stil her schätze ich es auf Minimum 100 Jahre, wahrscheinlich sogar älter. Die Fenster sind längst heraus gefault, es gibt nur noch die leeren Öffnungen, sein Dach ist gut zur Hälfte eingestürzt, die Fassade von Rissen durchzogen. Aber es strahlt eine Eleganz aus, wie eine alte Dame, die einmal unglaublich schön gewesen ist.

Als erstes sehe ich mir die Risse genauer an. Man sieht an ihnen gut, ob der Boden ungleichmäßig abgesackt ist und die Fundamente stabilisiert werden müssen, aber das Haus steht hier oben auf Fels, das sollte kein Problem sein. Auch Erdbebenschäden kann ich auf den ersten Blick nicht sehen, der Dachkranz ist gut erhalten, und das obwohl keine Verspannungen eingebaut sind. Das Haus ist halb eingewachsen, so dass ich nicht ganz herumlaufen kann. Das bedeutet, dass ich die Grundfläche innen vermessen muss, was aufwändiger ist, aber geht halt nicht anders.

Ich nehme die Taschenlampe, das Laser-Meßgerät und ein Klemmbrett und betrete das Haus. Schon in der Halle bekomme ich Gänsehaut, es ist kühl hier drin und mir läuft ganz kurz ein Schauer über den Rücken. Nach links und rechts gehen Türen ab, ich gehe zuerst nach links, in die ehemaligen Ställe. Bis auf die gemauerten Futterbecken ist nichts mehr vorhanden. Die meisten Bauernhäuser sind so aufgeteilt. Im Erdgeschoss sind die Ställe gewesen, oben wurde gewohnt. In Italien müssen Wohnräume per Gesetz eine Mindesthöhe von2,70 Meterhaben, daher muss man die alten niedrigen Ställe nach unten ausgraben, um die Raumhöhe so zu erreichen. Auf der anderen Seite der Halle sind mehrere Kammern, ungewöhnlich leer, normalerweise findet man in den alten Häusern immer Spuren von Menschen, die hier irgendwann mal ein paar Tage Unterschlupf gefunden haben.

Die alte Steintreppe ist gut erhalten, oben finde ich Terrakottaböden. Die Fußböden wurden ganz einfach gebaut, auf großen Eichenbalken, die im Abstand von einigen Metern von Außenmauer zu Außenmauer gehen, wurden dünnere Holzlatten gelegt. In diese Lattung wurden dann die Terrakotta-Steine gedeckt. Fertig. Zweckmäßig, billig und nach den vielen Jahren saugefährlich. Denn die Latten werden morsch, und der Boden bricht dann ein wie nichts. Man muss versuchen, sich im Erdgeschoß die ungefähre Lage der alten Eichenbalken einzuprägen, nur auf ihnen kann man im oberen Stockwerk sicher laufen. Ich muss oft schmunzeln, wenn ausländische Kunden von uns die Adressen der Ruinen möchten, um die Häuser „erstmal alleine“ anzusehen. Abgesehen davon, dass diese Häuser gar keine Adressen mehr haben, es ist lebensgefährlich, sich darin unbedarft zu bewegen.

Das Haus ist riesig, die Treppe endet in einem großen Raum mit altem offenen Kamin, eher einer Feuerstelle. Das Dach ist hier eingebrochen und ich kann in den diesigen Himmel über mir blicken. Vom Kamin ist nichts mehr übrig, aber die Ziegel an der Wand sind rußgeschwärzt, so tief in den Stein eingegraben, dass kein Regen den Stein je mehr sauber bekommen hat. Fünf Türen gehen von hier ab, es ist ganz still hier drin, und ich bekomme wieder Gänsehaut, diesmal so stark, dass mir fast die Haut vom Körper gezogen wird. Ich kenne dieses Gefühl schon, ich habe es oft in diesen Häusern. Diese alten Mauern sind wie große Speicher. Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich habe immer wieder darauf geachtet, es liegt nie an mir, was ich gerade empfinde, in manchen Häusern werde ich traurig, in einigen bekomme ich Angst und manchmal könnte ich geradezu lostanzen.

Ich gehe langsam in den ersten Raum und hoffe, dass ich den Balken unter mir auch richtig im Gedächtnis habe, kleine Schritte, immer erst vorsichtig tastend. Hinter der Türe ist das erste Zimmer auch leer, der Putz ist abgebröselt, die alten Dachbalken sind zerfressen, aber noch dick genug, man wird sie lassen können, der zweite Raum ist ebenfalls leer, abgesehen von ein paar alten Zeitungen, die in einer Ecke liegen, ganz vergilbt, alte Schrift, ich blättere sie durch und suche nach einem Datum und kann es nicht glauben, 1964, wow.

Auf der anderen Seite sind noch drei Türen, zwei davon kann ich nicht erreichen, der Boden ist eingebrochen und es ist zu gefährlich, ungesichert drüber zu steigen. Die letzte Türe. Meine Gänsehaut kommt wieder, ganz stark jetzt, mir wird kalt und dann stehe ich im Zimmer. Es ist komplett eingerichtet, ein einfacher Kleiderschrank, ein Bett, zwei Heiligenbilder, auf dem Nachttisch eine Marienstatue mit einem Rosenkranz. Das Bett ist gemacht, die Bettdecke hängt in Fetzen runter, das Kopfkissen, sicher einmal blütenweiß ist nur noch grau und staubig. Auf dem Kopfkissen liegt eine kleine Spitzendecke, darauf ein kleines Kreuz, ordentlich hingebettet. Ich kenne solche Zimmer, ich finde sie immer wieder. Der letzte der hier wohnenden ist in diesem Zimmer verstorben. Und die Kinder räumen irgendwann das Haus aus, aber sie bringen es nicht über sich, das Sterbezimmer zu entrümpeln, also machen sie das Bett, legen ein Kreuz auf das Kissen und kommen meist nie wieder her. Ich stehe lange da und versuche mir vorzustellen, wer hier gelebt hat, und als ich anfange, traurig zu werden, bekreuzige ich mich und verlasse das Zimmer. Ich will nach draußen, an die Luft, ans Licht, zurück ins Leben.

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MEIN BERUF I

Rückblick, ca. 2004/ 2005

… ich wache auf, weil ich laute Stimmen höre und blinzle in die Sonne, die mir voll ins Gesicht strahlt und bin, wie immer morgens, ohne jede Orientierung. Mein Blick fällt auf Stefano, der noch schläft, und als sich der Nebel in meinem Kopf zu lichten beginnt, versetze ich ihm einen harten Schlag auf die Schulter. Er schaut mich entgeistert an, aber ich bin schon aus dem Bett gesprungen und schmeiße ihm seine Kleider ins Gesicht. Wir müssen letzte Nacht eingeschlafen sein, und wenn mein Vater ihn hier morgens in meinem Bett findet ist die Hölle los. Ich schicke ihn über die Hintertreppe aus dem Haus und stelle mich unter die Dusche. Von meinem Schlafzimmer aus sehe ich in die sanft ansteigenden Hügel der Emilia Romagna mit ihren vielen verstreuten Natursteinhäusern und den Weinbergen – und als mir bewusst wird, dass ich mit der Schule fertig bin und ein ganzer Sommer noch vor mir liegt, könnte ich heulen vor Glück.

Ich gehe nach unten in die Küche und Papa sitzt mit einem Mann am Tisch den ich vom Sehen her kenne, ein Agente Immobiliare, ein Makler, aus Ravenna und sie reden laut aufeinander ein und beachten mich nicht. Erst als ich Papa küsse, murmeln beide ein „Guten Morgen“ und setzen ihr Gespräch etwas leiser fort. Ich gehe zum Gasherd und schenke mir aus der Caffettiera einen Espresso ein und lehne mich mit dem Rücken an die Arbeitsplatte.

Mein Vater lacht gerade höhnisch und das Gespräch läuft in etwa so ab:

„Du bist ein Dummkopf, äh, niemand zahlt für so einen alten Haufen Steine die du Haus nennst Geld“ sagt mein Vater und lehnt sich zurück.

„Vittorio, du hast ja keine Ahnung, die Deutschen kaufen diese alten Häuser wie verrückt, erst haben sie am Gardasee gekauft, dann in der Toscana, und jetzt kommen sie zu uns. Gib mir dein Haus, was willst du noch damit?“

„Okay“ und mein Vater zieht dieses „okay“ so richtig in die Länge, „dann bring mir einen Käufer, der mir 50.000 dafür zahlt.“

„Vittorio, du spinnst“ sagt der andere. „50.000 Euro?“ Er lehnt sich zurück und taxiert meinen Vater. „Niemand außer dir wäre so dumm, das Haus für 50.000 herzugeben“

Das saß, mein Vater schnellt nach vorne, und ich kenne diesen Blick, wenn er merkt, ui, da lässt sich was teuer verkaufen. „Was meinst du mit dumm, äh, wie viel bekomme ich dafür?“

Lange schauen sie sich in die Augen, keiner spricht, mein Caffè wird kalt, dann beugt sich der andere ganz weit vor und sagt triumphierend: „Ich bringe Dir Käufer, die zahlen mindestens 100.000! Euro!“ Nun ist ja Euro auf italienisch schon lustig, wir sprechen es aus, wie man es schreibt, wir kennen kein „eu“, aber er zieht es richtig lang „E_ U_ R_ OOO“.

Unser Land ist groß, wir besitzen unzählige Hektar, und ich weiß, dass wir drei oder vier von diesen alten Ruinen besitzen, wie unsere ganzen Nachbarn auch. Alte Höfe, die irgendwann aufgegeben wurden, weil das Baurecht für ein neues Haus an anderer Stelle benötigt wurde, weil die Bewohner gestorben sind und die Kinder längst neue Häuser haben. Diese alten Natursteinhäuser, sie verfallen, werden als Scheunen, Futterlager oder gar nicht mehr benutzt. Ein paar wurden die letzten Jahre restauriert, meist von Ausländern oder Römern, die sich ein Wochenendhaus daraus gemacht haben, die die alten Mauern wieder aufbauen, die alten Eichenbalken wieder richten und die Dächer neu decken. Ich liebe diese Häuser, aber dass man dafür soviel Geld bekommen sollte, war mir neu.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, denn mein Vater setzt wieder an: „Und wie stellst du dir das vor, äh, ich gebe dir mein Haus und dann? Was machst du dann, wer soll aus Deutschland kommen und von meinem Haus wissen?“

„Vittorio, ich biete es in Deutschland an, und dann kommen die Deutschen und kaufen es.“

„Du? Pah.“ sagt mein Vater „Du bietest es an, und dann kommen Deutsche? Wer bist du, kannst du deutsch, äh? Oder englisch? Oder irgendwas außer deinem Dialekt? Wie willst du das machen, sag’s mir?“

Der andere lächelt, wie ein Jäger, der weiß, dass er die Beute hat. Er lehnt sich zurück, lächelt, streicht sich über den gewaltigen Bauch, lächelt und sagt: „Nein, Vittorio, ich kann kein deutsch.“ Er lächelt meinen Vater an, der starrt zurück. Und plötzlich fängt mein Vater auch an zu lächeln, und dann – in Zeitlupe – drehen beide den Kopf ganz langsam in meine Richtung, und der Mann sagt: „Nein, Vittorio, ich nicht, aber Chiara, sie ist doch eine halbe Tedesca, o no?“

 

(Unter „Fotos“ findet ihr ein Bild, das ich von meinem Zimmer aus aufgenommen habe.)

 

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