Tag 8 und Abschied
Ich sitze allein am großen Tisch in der Münchner Wohnung und starre aus dem Fenster. Vor einer Woche war ich mit meiner Familie am Meer beim großen Ostermenü, jetzt ist das alles wieder weit weg. Wieder habe ich diese verhasste Reise gemacht, wie beim letzten Mal. Die letzte Nacht hatte ich in meinem Haus am Meer verbracht, war morgens nochmals an den Strand gelaufen, ich schließe die Augen und lasse nochmals meine Gedanken und den Tag davor an mir vorbeiziehen.
Der letzte aperitivo bei Paolo in meiner Bar. Ich starre in mein Glas und Paolo redet auf mich ein, was er alles für die bevorstehende Saison ändern wird und ich nicke hin und wieder, völlig abwesend, ich höre ihm gar nicht zu. Als ich aufspringe, hastig zahle und zu meinem Wagen gehe, schaut er mir verwirrt nach, dann drehe ich nochmals um, nehme ihn kurz in den Arm, drücke ihm einen Kuss auf die Wange und gehe endgültig, bevor er meine Tränen sehen kann.
Ich fahre in die Hügel, zu unserem Hof, und als ich ankomme, schlagen wie immer sofort die Hunde an und mein Vater kommt aus dem Haus. Mir war nie aufgefallen, dass er schon so gebückt geht und seine Schritte nicht mehr ganz so federn, wie früher, aber vermutlich wollte ich das auch nie sehen.
Wir küssen uns und ich habe mich lange auf dieses Gespräch vorbereitet und möchte ihm so vieles sagen und ihm erklären, warum ich nicht mehr fort will und wie es mir geht, so weit weg, und wie ich es hasse, in einer großen Stadt zu leben, wie ich denke, dort zu ersticken, wenn ich nicht mein Meer sehen kann und die Hügel und das weite Land, in dem ich groß geworden bin.
Wir gehen nicht ins Haus sondern er will etwas mit mir laufen, und so steigen wir den Hang hinter dem Haus hinauf. Der schmale Pfad ist jetzt im Frühjahr schon zugewachsen und man reißt sich an den Dornenranken manchmal etwas die Haut auf und es ist schwierig, die Steigung zu schaffen, ohne pausenlos über Wurzeln zu stolpern. Ganz oben aber belohnt uns der Blick. Von hier sieht man in die höheren, schon schroffer werdenden, Hügel, man sieht viele Weinberge und Felder, ein Großteil davon gehört zu unserem Hof. In die andere Richtung kann man bis hinunter zum Meer sehen, das meist etwas im Dunst liegt, so dass das Blaugrau des Himmels oft mit dem Meer verschmilzt. Heute jedoch ist der Blick klar und der Horizont weit draußen auf dem Meer bildet eine scharfe Kante zum Wasser.
Wir sprechen lange nichts, schauen nur in die Ferne und ich denke an die vielen Male zurück, die wir hier gesessen sind, als ich klein war und viele Fragen hatte, die ich pausenlos gestellt habe. Als ich größer war, und die Fragen noch mehr wurden, die man ab einem gewissen Alter aber nicht mehr zu stellen wagt, und an die vielen Gespräche mit meinem Vater an diesem Ort.
Ich erinnere mich plötzlich genau an diesen Morgen, als ich von oben kam und meinen Vater mit einem Bekannten in der Küche angetroffen hatte, und als da die Idee geboren wurde, ins Immobiliengeschäft einzusteigen, mit mir als halbe tedesca (deutsche), die sich um die ausländischen Kunden kümmern könnte. Und an mein Studium, das mir ermöglicht wurde, obwohl ich die Einzige war, die Interesse hatte, von uns Kindern, irgendwann den Hof weiter zu führen. Und daran, wie ich für ein oder zwei Monate nach Deutschland sollte, um neue Partner zu finden. Und an den „todsicheren“ Tipp von Paolo, dem Makler, als mein Vater sich an einer deutschen Firma beteiligt hat. Und dass wir nun – unfreiwillig – über 40 Häuser besitzen, die der Geschäftsführer dieser Firma nach und nach kaufte – aber nie bezahlt hat.
Und dann erzählt mir mein Vater die Geschichte, wie er mit knapp zwanzig Jahren die Nachricht bekam, dass sein Bruder verunglückt sei, und er, der sich gerade ein neues Leben aufgebaut hatte, in Sizilien, mit seiner deutschen Frau, die er gegen jeden Widerstand geheiratet hatte, um Hilfe gebeten wurde, zurück zu kommen, in sein Elternhaus, in die Emilia, um den Hof zu retten. Und wie es war, zurück zu kehren, dorthin, wo ihn alle verstoßen hatten. Und wie viel Arbeit es gekostet hatte, den runtergewirtschafteten Hof wieder Stück für Stück rentabel zu machen, mit der tedesca, meiner Mutter, an seiner Seite, die lange nicht akzeptiert wurde. Ich schaue auf die Felder ringsum, die Weinberge, all das Land, das ich eines Tages bestellen werde, auf die Ställe, die Tiere, um die ich mich dann kümmern werde, die Olivenbäume, die ich irgendwann ernten werde, und plötzlich wird mir klar, dass es in Ordnung ist, wenn etwas weh tut, dass es in Ordnung ist, wenn man etwas eine Weile nicht gern macht, aber ich erkenne auch, dass es manchmal Umwege geben muss, vielleicht auch, weil man dann Dinge wirklich erst zu schätzen lernt, weil man die oberflächliche Betrachtung ablegt und den tieferen Sinn erkennt. Außer mir und meiner Mutter spricht keiner bei uns Deutsch. Wer also sollte den Job machen. Mir wird klar, dass es eine Generation nach mir geben wird, für die wir etwas schaffen müssen, gerade auch in einem Land, in dem man nichts zu erwarten hat, außer dem, was einem die eigene Familie gibt.
Ich weiß, dass dieser unabdingbare Familienzusammenhalt schwer nach zu vollziehen ist, aber bei uns gibt es keine soziale Absicherung, kein Fangnetz. Wer fällt, der fällt tief. Italien war die meiste Zeit seiner Geschichte zerbrochen in einzelne Provinzen. Die einheitliche Sprache, das „Hochitalienisch“, wenn man so will, wurde erst durch das Fernsehen geschaffen. Noch heute versteht ein Sizilianer einen Venezianer nicht, wenn sich nicht beide auf eine dialektfreie Sprache einigen. Unsere Geschichte, unsere Politik, unsere Lebensart, all das hat uns zu misstrauischen Individualisten gemacht. Ohne das soziale Netz der Groß-Familie hat man kaum eine Überlebenschance.
Wir sitzen, bis die Schatten lang werden und treten kurz vor Einbruch der Dunkelheit den Rückweg an.
Auf dem Weg zurück ans Meer ist mein Kopf leer. Etwas zu verstehen, etwas entschieden zu haben, das bedeutet noch lange nicht, auch damit umgehen zu können.
Ich wache auf und habe einen klebrigen Geschmack im Mund. Die Sonne steigt gerade aus dem Meer und ich laufe an den Strand. Es wird Regen geben, die Wolken haben schon diese violette Farbe und auf dem Wasser tanzen kleine Schaumkronen, die den nächsten Sturm ankündigen. Ich stehe lange am Leuchtturm, der Geschmack meiner Tränen vermischt sich mit dem salzigen Duft der Brise, die vom Meer herzieht. Ich kann mich nicht losreißen, friere, weine, zittere. Irgendwann murmle ich „ciao, amore„, dann drehe ich mich um und gehe zurück, um zu packen.