Der Morgen, als mein Vater und Paolo beschlossen, alte Bauernhäuser an deutsche Kunden zu verkaufen, ist nun schon ein paar Jahre her. Inzwischen bin ich geometra, das ist eine Mischung aus Bautechniker und Architekt. Ich bin berechtigt, die Planung für Restaurierungen zu erstellen und auch bei der Gemeinde zugelassen, diese Pläne als Bauanträge einzureichen. Ich liebe diese Arbeit, besteht sie doch zum größten Teil darin, in alten verfallenen Ruinen herum zu steigen, diese zu vermessen, zu fotografieren und später die Umbauplanung zu erstellen, um diese alten Häuser wieder mit alten Materialien liebevoll zu restaurieren. Ich würde euch einladen, einen Tag mit mir in den Hügeln zu verbringen, wo ich drei neue Häuser begutachten soll. Lust dazu? Dann los.
…Der Morgen ist grau in grau, und der gestrige Abend hat sich als wirrer Traum in meinem Kopf festgesetzt, als ich aufwache. Wie fast immer weckt mich meine innere Uhr um 6.00 Uhr. Das ist schön, wenn ich der Sonne zusehen kann, wie sie aus dem Meer klettert, heute ist nichts von ihr zu sehen. Ich werde heute nachholen, was ich die letzten Tage wegen der Hitze immer wieder aufgeschoben habe und ein Stück ins Land fahren, um drei neue Häuser anzusehen, von denen wir gehört haben.
Ich nehme die Superstrada in Richtung Ancona und fahre eine Weile mit Blick aufs Meer entlang. Bei San Mauro biege ich ab in Richtung Hügel. Ich will zuerst nach Savignano, das schon etwas höher liegt. Ich mag diesen Ort sehr, eine so romantische Fußgängerzone die auf der großen Piazza endet. Ich setze mich dort in die Bar und bestelle mir einen caffè und ein Hörnchen, als zweites Frühstück. Ich diskutiere mit dem Besitzer ein wenig über das grässliche Wetter, und weil er behauptet es wird regnen, sage ich das Gegenteil, und drei alte Männer mischen sich begeistert in die Diskussion ein. Sie freuen sich über die Abwechslung und gewinnen so ein wenig Zeit bis die nächste Runde Wein für den viel zu frühen aperitivo bestellt werden muss.
Hinter dem Ort steigt die Straße sofort steil an und ich schraube mich die Serpentinen hoch in die Hügel der Emilia Romagna. Ich suche die erste Abzweigung und als ich sehe, dass die letzten Kilometer zum ersten Haus geteert sind, ahne ich schon, dass das nichts sein wird. Zu den alten Ruinen, die wirklich gut liegen, führen keine Teerstraßen. Und richtig, als ich an der Adresse ankomme, sehe ich als erstes Rollladen! Absolut daneben, das Haus ist ein klassisches Betonhaus aus den Siebzigern, völlig uninteressant, so dass ich nur kurz halte, das Navi neu füttere und direkt zum nächsten Haus weiterfahre.
Es gibt drei Arten von Straßen hier in den Hügeln, einmal die geteerten Straßen, die meist voller Schlaglöcher sind, dann die strade bianche, die weißen Straßen, das sind gekieste Wege, die ebenfalls von den Gemeinden gepflegt werden. Diese Straßen durchziehen das Hinterland wie kleine Adern und verbinden meist auch noch den abgelegensten Hof. Sie sind aus weißem Kies, da Teer im Sommer bei uns viel zu weich wird, wenn die Sonne draufknallt und die schweren Traktoren die Teerstraßen in kürzester Zeit zerstören. Die dritte Art sind die Privatstraßen, die zu ganz abgelegenen Häusern führen, sie sind meist bessere Feldwege. Es gibt nichts Teureres, als eine Privatstraße zu unterhalten.
Das Navi hat schon lange aufgegeben und ich fahre eine Straße zum dritten Mal auf und ab, als ich endlich die beschriebene Abzweigung entdecke. Es geht in einen Hohlweg, steil nach oben. Nach der ersten Kurve endet die feste Kiesdecke bereits und der Weg ist nun mit losem Split bedeckt. Das ist tückisch. Unter der dünnen Kiesdecke lauert fango, so heißt diese Lehmart bei uns, die in Verbindung mit Regen zu Schmierseife wird, fast tonartig, eine feste, wasserundurchlässige Schicht, in die es kein Reifenprofil schafft, einzudringen. Daher haben wir in den Weinbergen auch meist Raupenfahrzeuge im Einsatz, ein Traktor kommt oft nicht weit. Ich lege die Geländeuntersetzung ein und streichle das Gaspedal. Wenn das Auto stehen bleibt, kommt man nicht mehr wieder los. Die großen Geländereifen schieben die Kiesschicht locker beiseite und schlittern auf der Lehmschicht langsam nach oben. Nach der nächsten Kurve öffnet sich der Hohlweg zur Hangseite, es geht ca. 150 Meter steil nach unten, links ragen schroffe Felsen aus der Wand. Der Blick ist atemberaubend, die Wolken hängen tief, der Blick ins Tal ist verwehrt, aber einige der Hügelspitzen ragen aus den Wolken heraus und bieten ein wundervolles Schauspiel. Der schwere Wagen rutscht immer wieder zur Seite weg und ich versuche ihn, fast im Standgas, alleine kriechen zu lassen. In Gedanken kalkuliere ich bereits die Kosten, dieses Stück Straße wieder befahrbar zu machen und übersehe den großen Brocken, der aus dem Boden steht und fahre halb über ihn drüber, woraufhin das Auto beginnt parallel zur Straße Richtung Abhang zu gleiten. Ich nehme das Gas ganz weg, stelle die Vorderräder quer und hoffe, dass der Wagen rechtzeitig anhält, während der Hang in Zeitlupe auf mich zukommt. Ich schnalle mich prinzipiell nie an beim Fahren und denke noch, dass das vielleicht ein Fehler sein könnte, da bleibt der Wagen endlich stehen. Ich nehme den Gang raus, ziehe die Handbremse bis zum Anschlag, warte bis mein Puls etwas runter ist und das Adrenalin verfliegt. Dann steige ich aus, ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter. Dieser fango ist unglaublich. Ein Kind wäre in der Lage, ein Zweitonnen Auto alleine von der Stelle zu schieben. Der Wagen hängt hinten rechts an einem Felsbrocken fest. Was für ein Scheißtag! Ich würde zu gerne gegen die Karre treten, aber ich habe Angst, dass ich sie damit den Hang runter schieben könnte. Ich werde das Auto nie über den Felsen fahren können, ohne zu riskieren, den Hang herab zu stürzen, rückwärts kann ich nicht fahren, weil ich dann ins Rutschen kommen werde und Hilfe kann ich keine holen, weil hier kein Handyempfang ist. Ich gehe die Straße ein Stück weiter und sehe in einiger Entfernung das Haus, das ich suche. Ich funkle es böse an und rauche die nächste Zigarette. Ich werde mich rauswinschen müssen, aber es gibt nirgends etwas, wo ich das Seil festmachen könnte, das heißt, ich muss einen Anker eingraben und es wird mich endlos Zeit kosten. Ich hab schon oft Anker vergraben und mit Seilwinden gearbeitet, wir brauchen das häufig in den Weinbergen, an besonders steilen Stellen, aber alleine und in den harten Lehmboden ist es eine Strafe. Ich komme mit dem kleinen Notspaten kaum in den Boden rein und werde so wütend, dass ich irgendwann den großen „high lift“ aus dem Auto hole und den Anker damit in den Boden dresche. Davon wird er zwar ziemlich hinüber sein, aber ich habe eh nicht vor, das Ding noch mal auszugraben. Mit der Winde ist es relativ einfach, nach oben zu kommen, kritisch ist der erste Moment, als sich der Reifen wehrt, über den Felsen zu kommen, aber als er gerade so drüber ist und wieder zur Seite rutscht, arbeitet die Winde richtig gut und zieht in gerade hoch. Als ich beim Haus ankomme, sehe ich aus wie ein Schwein, komplett voll Schlamm, verschwitzt, die Haare wirr im Gesicht und eine Stelle an meiner Hand blutet. Aber ich bin hier allein, keiner sieht mich so.
Das Haus ist eine Offenbarung. Ein klassisches altes Herrenhaus, zwei Stockwerke, dazu ein Seitenflügel, der irgendwann angebaut worden ist. Es steht auf einer Anhöhe, ganz alleine, vom Stil her schätze ich es auf Minimum 100 Jahre, wahrscheinlich sogar älter. Die Fenster sind längst heraus gefault, es gibt nur noch die leeren Öffnungen, sein Dach ist gut zur Hälfte eingestürzt, die Fassade von Rissen durchzogen. Aber es strahlt eine Eleganz aus, wie eine alte Dame, die einmal unglaublich schön gewesen ist.
Als erstes sehe ich mir die Risse genauer an. Man sieht an ihnen gut, ob der Boden ungleichmäßig abgesackt ist und die Fundamente stabilisiert werden müssen, aber das Haus steht hier oben auf Fels, das sollte kein Problem sein. Auch Erdbebenschäden kann ich auf den ersten Blick nicht sehen, der Dachkranz ist gut erhalten, und das obwohl keine Verspannungen eingebaut sind. Das Haus ist halb eingewachsen, so dass ich nicht ganz herumlaufen kann. Das bedeutet, dass ich die Grundfläche innen vermessen muss, was aufwändiger ist, aber geht halt nicht anders.
Ich nehme die Taschenlampe, das Laser-Meßgerät und ein Klemmbrett und betrete das Haus. Schon in der Halle bekomme ich Gänsehaut, es ist kühl hier drin und mir läuft ganz kurz ein Schauer über den Rücken. Nach links und rechts gehen Türen ab, ich gehe zuerst nach links, in die ehemaligen Ställe. Bis auf die gemauerten Futterbecken ist nichts mehr vorhanden. Die meisten Bauernhäuser sind so aufgeteilt. Im Erdgeschoss sind die Ställe gewesen, oben wurde gewohnt. In Italien müssen Wohnräume per Gesetz eine Mindesthöhe von2,70 Meterhaben, daher muss man die alten niedrigen Ställe nach unten ausgraben, um die Raumhöhe so zu erreichen. Auf der anderen Seite der Halle sind mehrere Kammern, ungewöhnlich leer, normalerweise findet man in den alten Häusern immer Spuren von Menschen, die hier irgendwann mal ein paar Tage Unterschlupf gefunden haben.
Die alte Steintreppe ist gut erhalten, oben finde ich Terrakottaböden. Die Fußböden wurden ganz einfach gebaut, auf großen Eichenbalken, die im Abstand von einigen Metern von Außenmauer zu Außenmauer gehen, wurden dünnere Holzlatten gelegt. In diese Lattung wurden dann die Terrakotta-Steine gedeckt. Fertig. Zweckmäßig, billig und nach den vielen Jahren saugefährlich. Denn die Latten werden morsch, und der Boden bricht dann ein wie nichts. Man muss versuchen, sich im Erdgeschoß die ungefähre Lage der alten Eichenbalken einzuprägen, nur auf ihnen kann man im oberen Stockwerk sicher laufen. Ich muss oft schmunzeln, wenn ausländische Kunden von uns die Adressen der Ruinen möchten, um die Häuser „erstmal alleine“ anzusehen. Abgesehen davon, dass diese Häuser gar keine Adressen mehr haben, es ist lebensgefährlich, sich darin unbedarft zu bewegen.
Das Haus ist riesig, die Treppe endet in einem großen Raum mit altem offenen Kamin, eher einer Feuerstelle. Das Dach ist hier eingebrochen und ich kann in den diesigen Himmel über mir blicken. Vom Kamin ist nichts mehr übrig, aber die Ziegel an der Wand sind rußgeschwärzt, so tief in den Stein eingegraben, dass kein Regen den Stein je mehr sauber bekommen hat. Fünf Türen gehen von hier ab, es ist ganz still hier drin, und ich bekomme wieder Gänsehaut, diesmal so stark, dass mir fast die Haut vom Körper gezogen wird. Ich kenne dieses Gefühl schon, ich habe es oft in diesen Häusern. Diese alten Mauern sind wie große Speicher. Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich habe immer wieder darauf geachtet, es liegt nie an mir, was ich gerade empfinde, in manchen Häusern werde ich traurig, in einigen bekomme ich Angst und manchmal könnte ich geradezu lostanzen.
Ich gehe langsam in den ersten Raum und hoffe, dass ich den Balken unter mir auch richtig im Gedächtnis habe, kleine Schritte, immer erst vorsichtig tastend. Hinter der Türe ist das erste Zimmer auch leer, der Putz ist abgebröselt, die alten Dachbalken sind zerfressen, aber noch dick genug, man wird sie lassen können, der zweite Raum ist ebenfalls leer, abgesehen von ein paar alten Zeitungen, die in einer Ecke liegen, ganz vergilbt, alte Schrift, ich blättere sie durch und suche nach einem Datum und kann es nicht glauben, 1964, wow.
Auf der anderen Seite sind noch drei Türen, zwei davon kann ich nicht erreichen, der Boden ist eingebrochen und es ist zu gefährlich, ungesichert drüber zu steigen. Die letzte Türe. Meine Gänsehaut kommt wieder, ganz stark jetzt, mir wird kalt und dann stehe ich im Zimmer. Es ist komplett eingerichtet, ein einfacher Kleiderschrank, ein Bett, zwei Heiligenbilder, auf dem Nachttisch eine Marienstatue mit einem Rosenkranz. Das Bett ist gemacht, die Bettdecke hängt in Fetzen runter, das Kopfkissen, sicher einmal blütenweiß ist nur noch grau und staubig. Auf dem Kopfkissen liegt eine kleine Spitzendecke, darauf ein kleines Kreuz, ordentlich hingebettet. Ich kenne solche Zimmer, ich finde sie immer wieder. Der letzte der hier wohnenden ist in diesem Zimmer verstorben. Und die Kinder räumen irgendwann das Haus aus, aber sie bringen es nicht über sich, das Sterbezimmer zu entrümpeln, also machen sie das Bett, legen ein Kreuz auf das Kissen und kommen meist nie wieder her. Ich stehe lange da und versuche mir vorzustellen, wer hier gelebt hat, und als ich anfange, traurig zu werden, bekreuzige ich mich und verlasse das Zimmer. Ich will nach draußen, an die Luft, ans Licht, zurück ins Leben.
Hmm ein Haus für Dich und Deinem zukuenftigen Leben 😉
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