Italien. Mittag. Im Restaurant. Ich sitze, wie jeden Tag, vor meinem Wein und überlege, was ich essen werde. Es ist schön hier, direkt am Meer, heiß, eine laue Brise, weiße Sonnensegel, die nur zusammen mit einem tiefblauen Meer richtig zur Geltung kommen. Zwei Tische weiter nimmt gerade eine Familie Platz. Ich nenne sie mal „Nordeuropäer“, damit sich hier deutsche Touristen nicht angegriffen fühlen, denn was jetzt kommt, nun, ja, ich werde böse sein.
Er, bulliger Manager-Typ, sie, eine Zarte, nein, eher eine Pilates-Yoga-Diät-Dürre, die Tochter, Anfang zwanzig, hübsch, der Freund dazu, schon die ersten Speckansätze, Sonnenbrille aus den Achtzigern, weißes Leinenhemd. Man merkt, die „Kinder“ sind mit den Eltern zusammen im Urlaub, damit man den künftigen Schwiegersohn mal richtig kennenlernt.
Schwiegerpapa wird heute Schwiegersohn mal so ganz genau zeigen, wie das so läuft, mit ihm, am Meer, in einem guten Restaurant, und was seiner Tochter so zu bieten sein wird, wenn man sie denn heiraten darf.
Bühne frei, erster Akt:
Der beginnt gleich mit dem ersten Fehler. Papa bestellt eine Flasche Wein. Der wird am Tisch entkorkt, ein Probierschluck eingeschenkt. Sie ahnen, was kommt. Das Glas wird geschwenkt, gekippt, ins Licht gehalten. Hochkonzentriert die Farbe analysiert, geschnuppert, dann, ein winziger Schluck. Der wird gegurgelt, hin und her gespült im Manager-Mund, gezutzelt, ich warte fast darauf, dass er nun auch hochprofessionell wieder ausgespuckt wird, aber, endlich doch geschluckt. Kurzer nachdenklicher Blick….dann, das erlösende Nicken zum Kellner.
Nun muss man wissen, das war eine Flasche für vierzehn Euro. Das heisst, die kostet den Wirt im Einkauf, wenn er doof ist, vier Euro. Er ist aber nicht doof, also hat er nur zweifünfzig dafür gezahlt. Wir reden also letztlich über Supermarktware im Wert von dort vielleicht fünf Euro, also besseren Kochwein.
Ich schenke mir derweil etwas aus meinem Weinkrug nach. Denn natürlich bestellt man den Wein immer „sfuso“, also offen, im Krug. Da kostet der halbe Liter drei bis vier Euro, ist vom Bauern nebenan und entspricht vom Geschmack genau dem, was man zu einem guten Essen braucht.
Zweiter Akt:
Da ja Schwiegersöhnchen heute mal so richtig die mondäne weite Welt um die noch grünen Ohren gehauen werden soll, gibts auch richtig mondän Essen. Sie machen tatsächlich den nächsten Fehler und bestellen viermal kalte Vorspeise als Vorspeise für die Vorspeise. In Italien ist es üblich, sich das Essen am Tisch zu teilen. Die Portionen sind auch entsprechend. Viermal Vorspeise reicht von der Menge locker für sechs Italiener, vier „Nordeuropäer“ werden da an ihre Grenzen geführt. Als alle Platten, Teller, Schüsseln und Körbchen auf dem Tisch stehen, wird Mama etwas blass, denn sie überschlägt schon mal, wie viele Monate weitere Diät sie dieses Essen kosten wird, um so ausgemergelt zu bleiben, wie sie jetzt ist. Papa schüttet sicherheitshalber gleich mal ein volles Glas Wein in sich rein, während Tochter zögernd – sehr schlau – erstmal Brot isst.
Aber, als sie tapfer alles in sich reingestopft haben, kommt die nächste Runde. Die Nudeln. Wer clever ist, teilt sich eine Portion als Vorspeise. Wer sich das nicht traut, nun, der leidet. Eine Portion Nudeln ist eine Portion Nudeln. Teilt man sich diese zu zweit, häuft der Koch meist eineinhalb Portionen in die Schale. Bestellt man zu viert vier Portionen, bekommt man etwa für acht Leute Nudeln. Viel Spaß. Schwiegersohn greift Schwiegervaters Taktik auf und schüttet nun auch ein Glas Wein nach dem anderen in sich rein, und so muss schon jetzt die zweite Flasche geordert werden.
Ich will jetzt gar nicht lästern, dass sie sich einfallslos viermal Spaghetti Vongole (mit Venusmuscheln) bestellt haben, anstatt etwas durch zu variieren, nicht, dass Schwiegersöhnchen den Löffel, der hier eigentlich für die kalte Suppe liegt, die oft als Gruß aus der Küche gereicht wird, für seine Spaghetti benutzt. Aber, dass Schwiegerpapa das Fischmesser dazu benutzt, um die Vongole aus der Schale zu puhlen, das ist dann doch jenseits all meiner Toleranzgrenzen.
Selbst ich wäre jetzt, nach den Mengen, bereits platt. Aber, der Hauptgang fehlt ja noch. Zwei Portionen frittierter Fisch türmen sich in der Schale fast bis zum Sonnendach, die Platte mit den zwei Portionen gemischten gegrillten Fischen bedeckt den halben Tisch. Tochter ist inzwischen schon etwas grün im Gesicht, Schwiegermama greift auch immer öfter zum Weinglas, Schwiegerpapa versucht immer noch, mondän auszusehen, und Schwiegersöhnchen greift zur Guerilla-Taktik und verschwindet erstmal aufs Klo.
Die dritte Flasche Wein kommt. Wir haben 38 Grad, unter dem Sonnendach gefühlte 45 Grad. Papas blaues Hemd hat sich am Kragen längst in feuchtes Dunkelblau verfärbt, jeder versucht dem anderen noch ein Stück Essen auf den Teller zu schmuggeln.
Dritter Akt, Finale:
„Un dolce?“, fragt der Kellner (ein Dessert).
Tapferes Nicken. Schwiegerpapa wird heute nicht klein beigeben. Wenn ich Essen gehe, teilen wir uns meist die Desserts, so im Verhältnis ein Dessert für drei Personen. Hier werden, Sie ahnen es, vier geordert. Ich habe irgendwie den Eindruck, Schwiegersohn will gar kein Sohn dieser Familie mehr werden, Tochter überlegt, ob sie sich gleich in den Weinkübel übergeben soll, oder doch etwas diskreter in die Büsche, und Mama ist vom Wein schon so im Delirium, dass sie eh nichts mehr mitbekommt.
Der Kellner bringt nach den Desserts die Flaschen mit den Likören an den Tisch. Hier bekommt man immer Limoncello (Zitronenlikör) und eine Flasche Orangenlikör. Kostenlose Drinks? Nein, Schwiegerpapa schüttelt energisch den Kopf und bestellt eine Runde Grappa für alle. „Barolo!“, weist er den Kellner weltmännisch an.
Nun, dazu würde jetzt der übliche Espresso gut passen. Aber, auch jetzt ahnen Sie, was kommt. So ein schäbiger Schluck caffè? Nicht doch! Wir bestehen auf die Menge einer guten Tasse Kaffee und so ordern alle eine Tasse Cappuccino. Ich bin an anderer Stelle oft genug darauf eingegangen, warum das ein „no go“ ist, ich schenke mir das daher jetzt einfach. Nur so viel: ein Cappuccino ist ein Frühstückskaffee, der satt macht. Wenn man also schon satt ist, sollte man lieber zum Espresso greifen….
In der ganzen Zeit, in der diese Vier all das gegessen haben, habe ich mir mit meiner Nichte eine Portion Nudeln geteilt und danach eine gegrillte Fischplatte. Sie hatte ein Dessert, von dem ich mitgegessen habe, und den Orangenlikör haben wir in homöopathischer Dosis für den Geschmack genossen. Natürlich, bei offiziellen Essen bekommt man auch diese Mengen, die meine Tischnachbarn hatten. Aber dann nehmen wir uns auch vier bis fünf Stunden Zeit und machen viele Pausen. Denn beim Essen gilt das gleiche wie beim Sex: nicht der hat gewonnen, der als erster fertig ist 🙂
Als wir zum Strand zurück gehen, sitzen die Vier recht teilnahmslos am Tisch. Als wir später zum Parkplatz gehen, sehe ich den Riesen-Audi. Er steht in der prallen Sonne, alle Türen geöffnet. Schwiegerpapa sitzt mit glasigem Blick hinter dem Steuer, Schwiegermama hängt halb im, halb aus dem Auto, Tochter hält sich eine Flasche Wasser an die Stirn und der künftige Schwiegersohn….keine Spur von ihm.
Ach Gott wie herrlich!
Das ist so erfrischend und sehr lehrreich.
Danke für diese wunderbare Lektion in Sachen italienisch Essen gehen.
Liebe Grüße,
Stefanie
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Wieder mal toll geschrieben….
Ich habe richtig mitgelitten….mit dir 😉 Ich hätte den Café genommen. Schmeckt mir besser als Cappuccino und außerdem weiß man doch das ein kleiner/großer Brauner nach dem Essen gut für die Verdauung ist ;-D
P.S.: Sollte die Überschrift nicht besser „Das große Fressen“ oder „Die große Fresse“ heißen? Klingt so irgendwie komisch…
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Völlerei gegen Genuss… schade um das schöne Essen, wenn letzterer verliert.
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Super geschrieben, mehr davon! 🙂
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Wie aus dem echten Leben 🙂 – und leider immer wieder so gesehen! 😦
Andererseits gibt es manchmal auch das Gegenteil: Touristen gehen in ein feines Restaurant und essen dann nur ein einfaches Nudelgericht! =:-O
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Autsch, da hast du aber mächtig Dampf abgelassen. 🙂 Ich hab jetzt ein Bild im Kopf. Schade nur, dass du das in deinen Ferien in der eigenen Heimat erleben musst. Ich liebe deine Texte. Volltreffer!
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Ich amüsiere mich gerade köstlich. 😀
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Bin im Dauerschmunzel-Modus. Danke für diesen schönen Artikel. 🙂
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Vorhang zu!
Applaus!
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… mit einem breiten Lächeln im Gesicht gelesen … sehr gelungener Artikel …
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Wie genial! Liest sich wie eine Familie aus dem Rheinland 😉 Man was lag ich auf dem Boden beim lesen. Hab deinen Artikel gleich mal verteilt. Wobei mir gerade mal wieder die Frage kommt „warum sind Touristen(speziell ‚Nordeuropäer‘ so?“…herrlich…made my day…grazie
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[…] von denen in der vergangenen Woche gleich zwei bei mir nachhaltig in Erinnerung geblieben sind: Das große Fresse – heute im Restaurant […]
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Super, den Schwiegersohn weggefuttert! Die Lektion: sich lieber auf die Intuition verlassen, als es weltmännisch richtig machen zu wollen. Diese Angst, fehlzugehen … Toller Text!
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Super, den Schwiegersohn weggefuttert! Hätten sie sich auf ihre Intuition verlassen, „ach teilen wir uns was“, das Menü ist noch lang … Aber nein, auftrumpfen, angeben, unentspannt. Nunja, leider kein unbekanntes Verhalten. Danke für den tollen Text und die Wie-mit-der-Menüfolge-umgehen-Lektion 😉
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Fesselnde und leckere Erfahrung!
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