…ich fahre eine Woche früher los, so kann ich die ganzen Einladungen umgehen, die Abschiedspartys, die Umarmungen, all die Dinge, nach denen mir so gar nicht ist. Ich schaue ein letztes mal aufs Meer und setze dann meine tiefschwarze Dior-Brille auf. Die vertraute Straße weg vom Meer, vorbei an den weiten Feldern mit Blick auf die im Morgendunst liegenden Hügel, dann die Superstrada entlang in Richtung Autobahn. Ich fühle nichts, ich denke nichts, ich fahre einfach und hab nicht einmal das Radio an. Ich schaffe diesen Zustand bis Bologna, das ich nach etwa einer Dreiviertelstunde erreiche und dort biege ich an einem Autogrill ab. In der Bar trinke ich einen Caffè und dann noch ein Cola und kaufe eine Stange italienischer Marlboros, Zeitschriften, Tageszeitungen und einen Sixpack Wasser mit den großen Zwei-Liter-Flaschen. Über der Kasse hängt ein Spiegel und ich sehe darin aus wie ausgespuckt und ich schiebe die Sonnenbrille schnell nach unten, vor mein Gesicht und zahle.
Kurz nach Modena bin ich am letzten großen Autobahnkreuz, wenn ich einfach weiterfahre komme ich auf die Autobahn nach Mailand und Turin, dort leben Freunde von mir, die mich aufnehmen würden und meiner Familie nie verraten würden, dass ich dort bin. Aber ich biege ab in Richtung Brenner und das übergroße „D“ auf dem Schild hat etwas bedrohliches und mir wird langsam bewusst, dass ich nicht mehr lange hier zu Hause sein werde. Etwas später fahre ich wieder ab und sitze im Auto und starre aus dem Fenster ins Nichts und irgendwann raffe ich mich auf, tanke und fahre durch die monotone Po-Ebene bis die ersten Hügel auftauchen, die den Talkessel für den Gardasee bilden.
Dann tauchen die Alpen plötzlich am Horizont auf und die weißen Schneefelder scheinen mich höhnisch auszulachen und als ich dann bei Trento beginne mich langsam höher und höher in die Berge zu bewegen, signalisiert mein Handy eine SMS und ich fahre beim Versuch sie zu lesen fast in einen LKW. Ich habe keine Lust, schon wieder anzuhalten, aber der Gedanke, von wem die Nachricht sein könnte macht mich fast verrückt und ich drehe das Radio an und bekomme aber keinen italienischen Sender mehr richtig rein und irgendwann bin ich am Brenner und dort fahre ich auf einen Parkplatz und lese mit zitternden Händen die SMS von Stefano. Meine Tränen verschmieren das Display und der Text verschwimmt vor meinen Augen und einen Moment denke ich, ich könnte damit die Nachricht auslöschen, in der er mir mitteilt, dass es aus ist und er mir alles Gute wünscht, aber nicht mehr da sein wird für mich. Ich steige aus und die kalte Luft gibt mir den Rest, ich lehne mich mit schwachen Beinen an mein Auto und stehe so bis ich am ganzen Körper vor Kälte zittere.
Durch Österreich rase ich ohne Rücksicht auf irgendwelche Geschwindigkeitsbeschränkungen, ich will nur raus aus diesem Auto und verpasse die Hinweise auf die Staatsgrenze und merke nur an den blauen Schilder irgendwann, dass ich in Deutschland angekommen bin.
Das Navi lotst mich bis zur Wohnung eines Cousins, die ich nutzen werde und die eigentlich für Leute wie mich gekauft wurde, Leute aus unserer Familie, die für irgendetwas eine Weile nach Deutschland kommen. Ich drücke auf den Sender und fahre in die Tiefgarage und auf den Platz den er mir gesagt hat. Der Wohnungsschlüssel liegt unter einem Stapel Reifen und der Abdruck des Schlüssels am Boden lässt vermuten, dass er wohl schon immer hier hinterlegt ist. Im Lift finde ich den Knopf für den dritten Stock nicht, bis ich kapiere, dass es keinen Knopf gibt sondern ich den Schlüssel nehmen muss und der Lift bringt mich nach oben direkt in die Wohnung.
Ein Penthouse kenne ich nur aus Filmen, ich war vorher noch nie in einem – mir sind Wohnungen fremd, bis auf die eine Woche in Ravenna habe ich noch nie in einer gelebt. Das Wohnzimmer ist riesig und die untergehende Sonne scheint durch die Fenster, die an allen Seiten sind, überhaupt scheint diese Wohnung gar keine Wände zu haben, sondern nur aus Glas zu bestehen. Ich ziehe meine Schuhe aus und der Holzboden fühlt sich gut an. In einem Teil des Wohnzimmers steht ein riesiger Fernseher, ich sehe zwei Receiver und noch einige Geräte und als erstes mache ich den Fernseher an, denn die Stille erdrückt mich. Der große Landhaustisch auf der anderen Seite des Zimmers gefällt mir und die riesige Küche zieht mich magisch an, aber dann sehe ich den Elektroherd und der Hauch eines Lächelns, der sich in mein Gesicht gekämpft hatte, verfliegt, denn ich hasse es, ohne Gas zu kochen und denke ohnehin, dass ich nie wieder etwas essen werde. Ich laufe weiter durch die Wohnung und zähle drei Schlafzimmer und zwei Bäder. Eine Treppe führt eine Etage tiefer, hier ist ein weiteres Schlafzimmer und ein großes Arbeitszimmer und scheinbar noch ein Zugang zur Wohnung. In der Küche öffne ich den Kühlschrank, aber er ist leer und nicht in Betrieb und ich suche mechanisch alle Schränke ab, bis ich die Caffettiera finde und eine frische Packung Espresso und koche mir einen Caffè. Die Dachterrasse führt um die ganze Wohnung herum und ich klammere mich an der Kaffeetasse fest und rauche und als die Dämmerung in Dunkelheit übergeht und ich mich kurz bewege, flammen unzählige Halogenfluter auf, die von Sensoren gesteuert werden und ich zucke zusammen und habe plötzlich das Bild vor mir, wie ich vor drei Tagen aufgewacht bin, nachdem Stefano gegangen war und die Blitze durchs Fenster gezuckt sind.
Die Nacht ist stockdunkel und ich wache immer zu auf und finde mich nicht zurecht und vergesse ein Licht anzumachen, und als ich das nächste mal aufwache kann ich überhaupt nichts erkennen und ich bekomme Panik, weil ich nicht weiß, ob ich träume oder ob ich zurück bin, gefangen, bei meinem Tauchunfall und ich beginne um mich zu schlagen und nach Luft zu schnappen, bis ich wirklich sicher bin, dass ich nicht im Wasser bin und atmen kann und dann weiß ich, dass meine Alpträume wieder da sind.
(Aus iL Tedesco – Der Deutsche)
iL Tedesco – Der Deutsche ist soeben als Buch erschienen:
-> Taschenbuch
-> ebook
Bewegend
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