… da ich ohnehin fast nicht geschlafen hatte, weil sich die Hitze so in meinem Schlafzimmer gestaut hat, stehe ich um halb fünf auf. Die Sonne steigt bereits ein paar Millimeter aus dem Meer und die ersten Muschelsucher sind schon am Strand unterwegs. Ich dusche kalt und gehe dann, ohne mich abzutrocknen, nach unten in die Küche und koche mir mit der Caffettiera eine große Portion Espresso. Ich hatte nachts alle Fenster und Türen offen gelassen und nur die Läden geschlossen – als ich sie aufstoße, kommt mir schon jetzt nur warme Luft entgegen. Es ist so heiß zurzeit, dass sich alles nur noch in Zeitlupe abzuspielen scheint.
Wieder oben in meinem Schlafzimmer ziehe ich mich an und sehe, dass die Sonne nun glutrot aus dem Meer getaucht ist, und mir schaudert bei dem Gedanken, welche Hitze auch heute wieder auf uns wartet.
Auf der kleinen Terrasse hinter dem Haus rauche ich die erste Zigarette, die um diese Zeit zum Kotzen schmeckt und blättere in meinem Terminkalender. Eigentlich soll ich heute drei Häuser ansehen, fotografieren und vermessen, aber dafür ist es zu heiß und ich verschiebe alles auf morgen – oder irgendwann.
Ich bin um halb acht am Strand und Mario öffnet gerade die eisernen Rollos an seinem Bagno. Ich setze mich ganz nah an die Wand, um etwas Kühle abzubekommen und bestelle Caffè, ein Hörnchen und eine Flasche Wasser ohne Kohlensäure. Die Bademeister sind noch dabei, die Liegen abzuklopfen, den Sand zu rechen und die Abfallkörbe mit Mülltüten zu bestücken. Außer ein paar Alten, die vom Muschelsuchen kommen, ist noch kein Mensch da und ich schließe die Augen hinter der Sonnenbrille und genieße die Stille.
Als pünktlich nach dem Hotelfrühstück die ersten Touristen den Strand und die Bar stürmen, schrecke ich hoch, ich war eingenickt und es ist schon halb neun. Meine Füße glühen, die Sonne ist bereits über das Dach geklettert und hat sie quasi angebraten.
Ich gehe den Weg runter zum Meer und betrachte die Familien, die sich für den Tag am Strand einrichten, an ihren Hautfarben erkenne ich ziemlich genau wie lange sie schon hier sind, von schweinchenrosa bis – für italienische Verhältnisse – nur leicht angebräunt. Ich versuche mir vorzustellen, wie es sein muss, nur einmal im Jahr für wenige Tage zum Urlaub ans Meer zu dürfen. Es gelingt mir nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo zu sein, wo ich das Meer nicht mehr riechen kann.
Ich gehe an den Sonnenschirmreihen entlang bis zur Absperrung, ab der man am Strand nicht mehr liegen darf, der letzte Streifen zwischen den Plätzen und dem Meer. Hier hat Mario immer ein paar weitere Liegen stehen, für Freunde und Familie, und auch ich habe hier meinen ganzjährigen Stammplatz.
Es ist Ebbe und daher unmöglich zu schwimmen, man müsste zu weit raus laufen und dazu bin ich zu faul, also versuche ich mich irgendwie unter das kleine Dach der Sonnenliege zu packen und schlafe sofort wieder ein.
Ein Ball trifft mich am Fuß und ich schrecke hoch und knalle voll gegen das Sonnendach und vor mir steht ein Junge, vielleicht 16 und grinst und nimmt den Ball und läuft zurück zu seinen Freunden. Sie tuscheln und sehen immer wieder in meine Richtung und nach einer Weile kommt er wieder auf mich zu und radebrecht irgendetwas in versuchtem Italienisch und zeigt mir seine Zigarette und will Feuer dafür. Ich gebe ihm das Feuerzeug und mustere ihn unauffällig, aber er ist mir viel zu jung und dann versucht er ein Gespräch mit mir zu beginnen und ich bin gemein und verrate ihm nicht, dass ich deutsch spreche und stelle mich blöd und irgendwann ist sein Kopf so rot und seine Freunde schütteln sich vor lachen und er verschwindet.
Das Wasser ist zurückgekommen und ich will schwimmen und auf dem Weg ins Wasser merke ich, dass ich meine Sonnenbrille noch auf habe und drehe mich um, um sie auf die Liege zu werfen und renne dabei voll in den nächsten Deutschen und als ich fluche, entschuldigt er sich höflich und er spricht mit sehr starkem Akzent, was sich aber gut anhört und lächelt mich an und ich lächle zurück, und bevor er noch etwas sagen kann, renne ich ins Wasser und werfe mich gierig in die Wellen, nur um festzustellen, dass das Wasser schon wieder viel zu warm ist, um noch Abkühlung zu bringen.
Gegen 11.00 Uhr gehe ich wieder an die Bar und bestelle mir ein Glas Weißwein und noch eine Flasche Wasser. Mario tippt gerade das Mittagsangebot in seinen Laptop, später wird das dann auf dem großen TFT über der Bar angezeigt werden, und ich ziehe ihn auf, weil er jeden Tag nur die Reihenfolge ändert, frittierten Fisch oder Fleisch vom Grill, das ist meist in der Sommerzeit seine ganze Auswahl. Ich fange aus Langeweile eine Diskussion mit ihm an, welchen Fisch er heute gekauft hat, und dass ich ihn nicht frittiert mag, sondern vom Grill, und dass er mir statt seiner Pommes einen Salat dazu machen soll und mehr Knoblauch in den Fisch packt und die Petersilie weglässt, die ich hasse. Mario grinst wie immer, er liebt diese Diskussionen mit mir, weil er immer sagt, für die Touristen könnte er genauso gut Fischstäbchen machen, die merken eh keinen Unterschied.
Ich setze mich mit meinem Weinglas in den Schatten und habe trotzdem Schweiß auf der Stirn, weil es so schwül ist, und als ich auf meine Suunto schaue, sehe ich, dass der Luftdruck abstürzt. Plötzlich steht der Deutsche von vorhin an meinem Tisch, mit einem Halbliter Krug mit Weißwein und fragt mich mit seinem Akzent – der mir immer noch gefällt – ob er mir etwas nachschenken darf und ich halte ihm mein Glas hin und dann steht er unschlüssig vor mir und bevor die Situation peinlich wird, biete ich ihm eine Zigarette an, die er nimmt und sage ihm, dass er sich setzen soll. Er versucht ein Gespräch anzufangen, aber sein Italienisch reicht nicht sehr weit und bevor ich nicht mehr zurück kann, gebe ich meine Tarnung auf und antworte ihm auf Deutsch. Wir plaudern ein wenig und ich beantworte zum tausendsten mal die Fragen, warum ich deutsch kann, und ja, ich lebe hier, und ja, das ist toll, hier zu leben, das ganze Jahr am Meer, und nein, ich war seit 20 Jahren nicht mehr in Deutschland, was soll ich auch da, da kenne ich niemanden, und nein, ich habe wirklich keine Verwandten dort, und nein, ich gehe nicht mehr zur Schule und als ich ein Gähnen unterdrücke haut er mich mit der Frage, ob ich mit ihm schlafen möchte, um. Er hat auf Italienisch gefragt und merkt an meinem Blick, dass da was falsch gelaufen ist und wiederholt die Frage auf Deutsch, und er hatte gemeint, ob ich mit ihm laufen will, und hat das Verb vertauscht und als ich ihn aufkläre, müssen wir plötzlich lachen und die Langeweile ist verflogen.
Mario schaut in unsere Richtung und ich breche das Gespräch mit einer Ausrede ab und bedanke mich für den Wein und verschwinde, bevor die Frage nach einem Treffen, oder Essen oder wie auch immer kommt.
Ich gehe kurz nach Hause und dusche und hole mein Handy, das ich vergessen hatte, und als ich die ganzen SMS und Anrufe sehe, lege ich es zurück auf den Tisch und gehe ohne es wieder an den Strand.
Ich liebe die Zeit nach dem Essen, die meisten Touristen sind in ihren Hotels und am Strand kehrt Ruhe ein. Heute ist es aber zu heiß, um hier zu bleiben, die Sonne ist unter einem Dunstschleier verschwunden und es ist so drückend, dass sich keiner mehr bewegt. Die Wellen haben lauter kleine weiße Krönchen, das sieht lustig aus, bedeutet aber, dass es ziemliches Unwetter geben wird. Ich sitze noch beim Caffè, als der erste Windstoß ohne Vorwarnung den riesigen Terrassenschirm umreißt und die Bademeister sprinten los, um die Flagge zu wechseln. Es ist nun verboten, noch Sonnenschirme zu öffnen und als mir die erste Ladung Sand ins Gesicht fliegt, habe ich genug und gehe heim.
Auf dem Weg zu meinem Haus kommen mir die Touristen entgegen, die alle an den Strand strömen und ich sehe kurz den Deutschen vom Vormittag in der Menge, aber ich schaue schnell in eine andere Richtung.
Zuhause lege ich mich nackt aufs Bett und das träge Rattern des Ventilators murmelt mich in den Schlaf. Ich träume von dem Haus, das ich eigentlich nie sehen wollte, aber Paolo hat es mir trotzdem vor ein paar Tagen gezeigt, und es war noch schlimmer als ich befürchtet hatte. Es war alles da, was eine Familie braucht, Spielsachen, Möbel, eine Mahlzeit auf dem Tisch, Kleidung, eine Zahnbürste ließ noch die Reste von Zahnpasta erkennen. Alles war da, nur die Familie nicht. Ich ahnte, was passiert sein muss und fürchtete mich vor der Antwort, wie lange das Haus in diesem Zustand leer steht. Das weiche Gefühl unter meinem Schuh ist ein Teddy und er starrt mich an und mir wird schwindlig und ich musste raus und lehnte mich keuchend an den Baum, den der Vater mit seinem Sohn gepflanzt hatte, vor 3 Jahren, während ich Bilder sehe, die ich nicht sehen will. Solche Häuser machen mich so traurig, wenn ganze Familien einfach ausgelöscht wurden und sich danach niemand gekümmert hat, um all die Sachen – weil es niemanden mehr gab.
Von diesem Haus träume ich und es ist schrecklich, weil das Kind dort erscheint und nach seinem Teddy schreit und ich muss weinen und dann wache ich endlich auf.
Der Ventilator rattert und als plötzlich Menschen schreien, schaue ich aus dem Fenster und der Sturm ist jetzt fast ein Orkan und die Menschen rennen um die Wette mit Sonnenschirmen und Liegen und schreien gegen den Wind und eine Mutter hat ihr Kind unter einem Tuch und ich schließe das Fenster, das klappert und stöhnt und denke wieder an das Haus…
iL Tedesco – Der Deutsche ist soeben als Buch erschienen:
-> Taschenbuch
-> ebook
Hallo Chiara! Bin ganz neu hier bei WordPress und hab mich grad etwas umgesehen, um mich vor der Montag-Morgen-Arbeit zu drücken. Hab mein zweitliebsten Thema „Italien“ durchstöbert (nach „Film“) und bin so auf deinen Blog gestossen. Du schreibst ausgezeichnet! Ich freue mich schon auf die weitere Lektüre. A presto 😉
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Hi Chiara, ich wollte nun nicht respektlos sein und habe mal angefangen Deine Erlebnisse zu lesen. Ich habe nun mit dem ersten Teil angefangen und muß gestehen, das Du mich (obwohl ich ein Lesemuffel bin) in Deinen Bann ziehst, mit Deiner Geschichte. Ich mußte vorhin doch echt ein paar mal laut loslachen, weil ich mir das bildlich vorstellen konnte, was Du da beschreibst. Und das ganze drumherum mit den Touris, kenne ich ja aus unseren Familien-Italien Urlauben aus Elba auch. Ich habe jetzt noch etwas Zeit und werde mich schnell mal über den 2. Teil hermachen. Ich überlege gerade, ob ich auch mal solche Erlebnisse in meinem Blog veröffentlichen soll. Ich weiß aber nicht, ob ich das Ganze so blumig ausschmücken kann wie Du. Du machst das echt gut und man erfährt auch so etwas über Deine Persönlichkeit. Wenn ich das vorher gewußt hätte, hätte ich die 10 Teile schon durch. Dann mach Dir mal noch ein paar schöne Tage in der Heimat, rieche das Meer und nimm Dir doch einfach mal eine leere Flasche und befülle sie mit echtem Ravenna Mare 🙂 Für zuhause ..
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