…ich dusche mich zum dritten Mal an diesem Tag, und als ich aufs Meer schaue, ist es dunkelgrün und an manchen Stellen fast schwarz und ganz kurz kommt die Erinnerung an meinen Unfall in mir hoch, die ich aber sofort wieder unterdrücke. Ich habe Hunger und Kopfschmerzen und bin immer noch müde und trinke einen weiteren caffè und merke, dass ich kein Aspirin mehr habe. Wegen des Sturms muss ich alle Fenster zulassen und die Luft ist so drückend, dass man kaum atmen kann und ich beschließe auszugehen und etwas zu essen.
Draußen ist die Luft jetzt klar und kühl und der Sturm kitzelt auf der Haut. Ich laufe Richtung Centro und amüsiere mich wie immer ein wenig über die Touristen, in ihren kurzen Hosen und bunten Hemden, und versuche mir vorzustellen, ob sie zuhause auch so durch ihre Städte laufen und muss lachen.
Eigentlich will ich zu Da Carlo, aber es ist noch viel zu früh für ein Abendessen und außerdem hatte ich völlig vergessen, dass die Saison schon läuft und die Lokale alle voll sein werden mit Urlaubern, die viel zu früh und viel zu hektisch die Plätze stürmen.
So gehe ich zuerst in eine Bar und finde tatsächlich einen freien Tisch und winke Paolo, dem Wirt, zu und ganz kurz blitzt ein Lächeln in seinem Gesicht auf, aber er hat Stress und muss sich wieder seiner Arbeit zuwenden. Am Nachbartisch sitzen einige Ausländer, die alle Sonnenbrand haben und ziemlich fertig aussehen, vermutlich waren sie den ganzen Nachmittag am Strand und haben dem Sandsturm bis zum bitteren Ende getrotzt. Sie winken der Bedienung und als sie bestellen, höre ich, dass sie deutsch sprechen und als Carla sie nicht versteht, wechseln sie die Sprache und versuchen, mit ein paar Brocken italienisch zu bestellen, aber damit wird es noch schwerer, weil Carla aus dem Veneto stammt und einen Hundsdialekt spricht, den ich selbst kaum verstehen kann. Ich muss wieder grinsen, denn eigentlich mag ich die Deutschen und die Österreicher gerne. Man sieht ihnen an, wie sie sich freuen, dass sie Urlaub haben, am Meer sein dürfen für kurze Zeit, das Wetter genießen, und ich mag die Väter, die plötzlich Zeit haben für ihre Kinder und ihnen alle Wünsche erfüllen. Schlimm ist es im August, wenn die Römer und Mailänder ans Meer kommen. Die sich dann im eigenen Land benehmen, als wären alle Menschen, die nicht aus diesen Metropolen stammen, nur Sklaven, die ihnen den Platz an „ihrem“ Meer wegnehmen.
Paolo kommt an meinen Tisch und bringt mir unaufgefordert ein Glas Weißwein und ein paar Kleinigkeiten als aperitivo, ein paar Weißbrotecken mit Wildschweinpastete, Erdnüsse, Oliven und etwas Käse, Pecorino, den ich besonders mag. Am Nachbartisch werden Hälse gereckt, die anderen verstehen nicht, wie ich meine Bestellung so schnell hergezaubert habe. Da ich immer noch meine dunkle Sonnenbrille aufhabe, kann ich den Tisch ungeniert beobachten. Paolo wechselt ein paar Worte mit mir, beklagt sich übers Wetter, über die schlechte Saison und was weiß ich noch. Typisch Italiener halt, wir jammern immer, aber nur, um auch immer ein Gesprächsthema zu haben. Ich lächle ihn an, nippe an meinem Wein und frage ihn, ob er ein Aspirin hat, worauf er mich fragt, ob ich spinne und kopfschüttelnd zurück in die Bar geht. Ich warte genau bis er in der Türe verschwunden ist und rufe ihn dann zurück, trinke mein Glas auf einen Zug leer, halte es ihm hin und sage lächelnd: „Un altro, grazie“. Er deutet eine Ohrfeige an, grinst und holt mir noch eins. Wir lieben diese Spielchen, damit vertreiben wir uns gerne die Zeit.
Dann laufe ich die Promenade entlang und rauche und hänge meinen Gedanken nach. Während der Saison ist es ziemlich einsam für mich, meine Freunde sind entweder in die großen Städte, nach Bologna, Modena oder noch weiter gegangen, um Arbeit zu finden. Die, die noch hier sind, arbeiten fast alle bei ihren Familien in der Gastronomie, und das heißt während der Saison die ganze Woche, sieben Tage, zwanzig Stunden am Tag, keine Pause, keine Zeit. Bis September, dann beruhigt sich wieder alles. Aber es stört mich nicht, ich habe normalerweise auch genug zu tun, außer wenn es so heiß ist wie jetzt, dann mag ich es gern etwas ruhiger. Während ich so darüber nachdenke, nähere ich mich dem Leuchtturm, und trotz des aperitivo habe ich nach wie vor Hunger. Der Wind bläst mir die Haare so ins Gesicht, dass ich fast blind laufe, und da die Sandkörner wie Schmirgelpapier fliegen, setze ich trotz der Dämmerung meine Sonnenbrille wieder auf. Am Leuchtturm schaue ich aufs Meer, die Dunkelheit kommt schnell am Meer, eben war es noch dämmrig, schon ist es Nacht. Der Sturm hat alle Wolken weggeblasen und der aufgehende Mond taucht das Wasser in ein schimmerndes Licht, das aussieht wie flüssiges Silber. Ich bin gern nachts am Meer, warte, bis die Fischer rausfahren und sehe den Lichtern zu, wie sie am Horizont verschwinden – aber heute ist es einfach zu windig.
Ich gehe zu Da Carlo, der den besten Fisch an der ganzen Küste zubereitet, aber schon in der Türe mache ich kehrt, das Lokal ist gerammelt voll und die Luft zum Schneiden dick. Ich würde bei Carlo immer einen Platz bekommen, notfalls könnte ich in der Küche essen, denn Carlo ist mein Onkel, aber der Lärm lässt meine Kopfschmerzen wieder aufflammen und ich dränge mich durch die nachströmenden Menschen zurück ins Freie. Ich schiebe und drängle mich langsam nach draußen, und als ich endlich wieder etwas von der kühlen Abendluft in die Nase bekomme, renne ich zum zweiten mal an diesem Tag voll in den Deutschen, der mir den Wein angeboten hatte.
Ich nicke kurz und setze mich in Bewegung und gehe zurück in Richtung Straße und er ruft mir nach, ob ich einen Moment Zeit habe und ich denke: „Geh weiter, dreh dich nicht um, geh einfach weiter“, aber irgendetwas in seiner Stimme rührt mich an, und obwohl ich weiß, dass ich es nicht tun sollte, und obwohl alle Sirenen in mir aufheulen, bleibe ich dennoch stehen und drehe mich langsam zu ihm und weiß in dem Moment ganz genau, dass ich einen großen Fehler mache…
iL Tedesco – Der Deutsche ist soeben als Buch erschienen:
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