… wir gehen nebeneinander her und reden beide nichts, und als das Schweigen irgendwann unangenehm zu werden beginnt, sagt er plötzlich: “Du bist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen.“ Einfach so, er sagt es nicht herausfordernd, oder wie man ein Kompliment macht, sondern es ist eine Feststellung. Ich drehe meinen Kopf und sehe ihn an, und schließlich treffe ich eine Entscheidung und wir gehen zu meinem Haus und holen meinen Wagen und fahren ein Stück die Küste runter. Es ist sternenklar und wir haben das Dach offen und der Fahrtwind ist fast einen Hauch zu kühl, aber ich genieße die Luft, die nach Salz und Algen riecht und schließlich erreichen wir den kleinen Ort.
Hier gibt es keine Touristen, weil hier keine Hotels und Apartmenthäuser gebaut wurden. Direkt an der großen Fahrrinne, die das offene Meer mit dem großen Industriehafen in Ravenna verbindet, wollte niemand Hotels bauen. Vorgelagert, direkt am Meer, ist der Fischerhafen. Wegen der großen Tanker, die hier fahren, gibt es keine Brücke und wir nehmen die Motorfähre, die im 10-Minutentakt den Kanal überquert.
Wir laufen durchs Centro und in den kleinen Gassen steht noch immer die schwüle Luft des Tages und der Wind hat wieder zugenommen, so dass wir uns dicht an den vermoderten Hauswänden entlang bewegen, um etwas Schutz zu finden. Meine Kopfschmerzen sind zurückgekommen und mir ist leicht schwindlig vom Wein und vor Hunger.
Das Restaurant liegt versteckt in einer Seitengasse und wir stemmen uns gegen die Türe und als wir das Lokal betreten ist es auch hier schwül und stickig, aber diesmal ist der Lärmpegel gering, weil die meisten Tische unbesetzt sind. Wir setzen uns in eine Nische und er nimmt sofort die Speisekarte in die Hand, während ich mich umsehe und mir eine Zigarette anzünde. An solchen Orten schert man sich wenig um irgendwelche Gesetze aus Rom und der Wirt, der mich kennt, bringt unaufgefordert einen Aschenbecher und sieht uns fragend an. Ich strahle ihn an an und sage ihm, dass ich großen Hunger habe und er nickt und fragt, wie wir unseren Wein möchten. Fermo oder frizzante, niemand würde hier auf die Idee kommen, eine Flasche zu bestellen, es gibt nur offenen Wein aus den Hügeln hinter Ravenna. Er geht davon und mein Begleiter sieht mich fragend an und ich erkläre ihm, dass wir Fisch bekommen, weil es hier nur Fisch gibt und wir uns überraschen lassen.
Der Wein ist eiskalt und der Krug außen angelaufen und bevor ich einschenke, drücke ich meine Stirn an das kühle Glas und schließe kurz die Augen und dann trinken wir, während der Wirt uns die ersten Teller bringt. Wir essen kleine frittierte Sardinen, Seeschnecken, Muscheln, immer kleine Portionen, meist kalt zubereitet und als die Babycalamaris vom Grill kommen tauche ich mein Gesicht ganz tief über den Teller und atme den Duft ein, eine Mischung aus Meer, Gewürzen, Knoblauch und Weißwein, seufze und fange an zu essen. Wir schenken uns das übliche Bla Bla und reden über Essen, Kunst, Gedanken und Gedichte und als wir den dritten Krug Wein geleert haben und alle Teller aufgegessen sind, sitze ich schweigend da und nippe an meinem Caffè, wir schauen uns in die Augen und ich weiß nicht was es ist, was mich so fasziniert und anzieht und dann lausche ich wieder seiner Stimme, die mich verzaubert und plötzlich möchte ich raus und dränge zum Aufbruch.
Beim Hafen gibt es kleine Bar, eigentlich ein richtiges Dreckloch, es kommen fast nur Fischer her, die sich entweder noch ein Gläschen gönnen, bevor sie aufs Meer fahren, oder einen erfolgreichen Fang begießen, bevor sie nach Hause gehen. Sie liegt direkt gegenüber dem Pier und sieht von außen immer so aus, als ob sie geschlossen wäre. Drinnen ist es schummrig, die Einrichtung ist alt und es riecht immer etwas nach Fisch, Meer und Seetang. Der alte Holzboden ist vernarbt und von den Wänden bröckelt an manchen Stellen der Putz ab. Ich liebe diesen Ort, er strahlt etwas Mystisches aus, ich habe schon viele Nächte hier verbracht, mit Freunden, und auch allein. Hier wurden große Fänge gefeiert, hier haben Angehörige schon tagelang gewartet, wenn eins der Schiffe bei einem Sturm nicht mehr heimgekommen ist, hier wurden Geschäfte abgeschlossen, Geburtstage gefeiert und den vielen Toten gedacht, die auf See geblieben sind.
Luigi lächelt mir kurz zu und wir setzen uns an einen der kleinen Tische. Ich bestelle Wasser, wie immer ohne Kohlensäure. Der Deutsche war anfangs ziemlich irritiert, aber er spürt wohl, dass das für mich ein besonderer Ort ist, den ich nicht mit jedem teile und er nimmt meine Hand und drückt sie und ich spüre eine Wärme durch meinen Arm fließen und erwidere den Druck leicht und lächle, und zum ersten Mal an diesem Tag sind meine Kopfschmerzen endlich völlig verschwunden.
Wir sind zurück gefahren, schweigend die ganze Zeit, und ich parke ein Stück von meinem Haus entfernt und wir laufen über den Strand, meinen Weg zum Leuchtturm. Es ist jetzt sternenklar, der Vollmond zieht eine lange Spur aus flüssigem Silber über das Wasser, das sich wieder beruhigt hat. Der Leuchtturm hebt sich als majestätische Silhouette vom Nachthimmel ab. Bis auf das gelegentliche leise Tuten der Fischerboote weit draußen ist es so still, so bezaubernd.
Wir sind stehen geblieben und ich sehe ihn wieder an, diese Augen, und er umarmt mich, ganz vorsichtig, und dann berühren sich unsere Lippen und mir wird heiß und als ich eben meinen Mund öffnen will, um ihn ganz zu spüren, da schießt ein Film durch meinen Kopf, von meiner Familie, ich denke an den Weg, den ein italienisches Mädchen vorgezeichnet bekommt, an Stefano, den ich heiraten soll, seit ich fünf bin, an die auferlegten Verpflichtungen und an die strengen Regeln, die sich keiner vorstellen kann, der nicht in einer alten italienischen Familie aufgewachsen ist. All das spielt sich in Sekunden ab, ich sehe Gesichter, die den Kopf schütteln, Blicke, die mich strafen – und als seine Zunge sanft an meinen Lippen spielt, versaue ich es, schiebe ihn weg und sehe seinen bestürzten Blick und ich will es ihm erklären, ihm sagen, was in mir vorgeht, aber mein Herz ist plötzlich in dickes Eis gepackt und ich bin so traurig und so verletzt und so wütend, dass ich kein Wort sagen kann, und er deutet das Funkeln in meinen Augen falsch und versucht zu sprechen, aber er bricht ab, sieht mich lange an und dann dreht er sich um und geht den Weg zurück, während ich wie versteinert stehen bleibe und ihm nachstarre und ich würde gerne heulen, aber es kommen keine Tränen und irgendwann lasse ich mich mit dem Rücken an der Wand des Leuchtturms einfach nach unten rutschen und vergrabe mein Gesicht in meinen Armen und hoffe, dass dieses Gefühl irgendwann wieder nachlässt…
iL Tedesco – Der Deutsche ist soeben als Buch erschienen:
-> Taschenbuch
-> ebook
sehr spannend , die schrift ist ein wenig klein aber sonst wunderschön beschrieben du hast ein Talent dafür
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Vielen Dank!
Was ist mit der Schrift? Womit betrachtest Du den Blog?
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ich betrachte den block mit Chrome oder Firefox
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