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Archive for the ‘Il Tedesco – Der Deutsche’ Category

…ich muss Stunden so dagehockt sein, ohne mich zu bewegen, ohne zu denken, leer, kaputt, ohne irgendein Gefühl. Als ich irgendwann ins Bad wankte, wurde es draußen schon ganz leicht hell, ein zarter erster Streifen Licht am Horizont. Ich sah nur ganz kurz in den Spiegel, ich wollte gar nicht wissen, wie ich aussah. Aber der Augenblick genügte. Mein Wangenknochen war so angeschwollen, dass ich aus dem einen Auge kaum etwas sehen konnte, meine Nasenwurzel verfärbte sich bereits tiefblau und ich war blut- und tränenverschmiert. Hastig versuchte ich das gröbste mit Make-up abzudecken, aber da ich mich fast nie schminke und mit einem normalen Gesicht schon bizarre Resultate erziele, verwandelte ich mich erst recht in einen Zombie. Wütend wischte ich mir alles wieder aus dem Gesicht, machte mich etwas frisch und ging dann ein paar Sachen einpacken.

Ich denke noch heute darüber nach, ob ich richtig gehandelt habe, damals. Vermutlich wäre alles einfacher geworden, wäre ich nur zu meinen Eltern auf den Hof gefahren. Mein Vater wäre noch im gleichen Moment zu Stefanos Eltern gerast – mich im Schlepptau – und hätte dort alles in Schutt und Asche gelegt. Er ist Sizilianer. Und wer seine Tochter anrührt, ist so gut wie tot. Stefano hätte für eine lange Zeit die Gegend wechseln müssen, denn, wenn meine Brüder ihn in die Finger bekommen hätten, wäre er bestenfalls mit einem ausführlichen Arztbesuch davon gekommen. Hätte ich das getan, so würde ich vermutlich heute bereits ganz entspannt auf unserem Hof wohnen und Wein anbauen. Aber ich scheute die ganze Aufregung, das Gerede, das es geben würde. Erinnerungen an den vertuschten Skandal aus meiner Jugend stiegen wieder in mir auf. Stefano wusste davon, ich hatte irgendwann den großen Fehler begangen, es ihm zu erzählen, hatte es ihm erzählen müssen – und was, wenn er aus Rache davon Gebrauch machen würde?

So packte ich Wäsche und Kleidung ein, sperrte mechanisch das Gas und den Strom ab, verriegelte alle Fensterläden, schloß sorgfältig ab und stieg in meinen Wagen. All das lief wie ein Film ab, den ich interessiert betrachtete, in dem ich aber gar nicht vorzukommen schien.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinsollte. Wenn mich irgend jemand, den ich kannte, so sah, es würde keine Stunde dauern, bis meine Familie davon erfahren würde. In so kleinen Orten ist es unmöglich, irgendetwas geheim zu halten. Ich ging verschiedene Möglichkeiten durch, ein Hotel: keine Lust, Freunde in Turin: zu weit, Pietro: ging nicht, er war Polizist, er würde Fragen stellen. Irgendwann startete ich den Motor und fuhr einfach los, denn plötzlich hatte ich Angst, Stefano würde zurückkommen. Reumütig, mit Entschuldigungen. Der Gedanke widerte mich an. Automatisch fuhr ich Richtung Autobahn, automatisch nahm ich die Richtung nach Ancona und automatisch landete ich irgendwann am Borgo. Es war inzwischen hell, aber noch sehr kalt, aber das spürte ich gar nicht. Ich ging zu meiner Lieblingsruine, setzte mich dort inmitten der alten Grundmauern einfach ins Gras und starrte in die Hügel. Mir war kalt, ich hatte rasende Kopfschmerzen, Hunger, Durst, ich fühlte mich wie ausgespuckt. Und ich war müde, so unglaublich müde. Das Bild der Hügelkette gegenüber wurde plötzlich lebendig, fing an zu rotieren und dann wurde mir schwarz vor Augen.

Als ich wieder zu mir kam, war mir kotzübel und der Versuch aufzustehen wurde mit brutalstem Hämmern in meinem Kopf bestraft. Ich wartete ein paar Minuten. Der zweite Versuch löste wieder dieses Rotieren der Landschaft aus, und ich ließ mich einfach zurück ins Gras sinken. Es ging nicht. Das Handy. Das Handy fiel mir wieder ein. Pietros Handy. Ich fummelte mühsam Dieters Nummer rein, merkte, dass ich keinen Ton herausbrachte und schrieb ihm daher eine SMS: „hilfe borgo chiara“.
Es dauerte keine Minute bis das Telefon zu klingeln begann, ich wollte abheben, erwischte den „Abweisen“ Knopf, fluchte und dann wurde wieder alles schwarz.

Ich bekam durch einen dichten Nebel mit, wie sich jemand über mich beugte, auf mich einredete. Dazwischen Dieters aufgeregte Stimme mit seinem süßen Akzent. Zwei Männer, die mich dann unterfassten und mehr wegtrugen als führten. Dann eine Liege, weich und warm, eine Decke und ein Stich im Arm und plötzlich wurde alles schön und dieser Kopfschmerz ließ endlich nach und ich durfte schlafen.

Ein karges Zimmer, Putz der von der ehemals mintgrünen Wand bröckelt, ein großer Fensterflügel mit Milchglas. Ich kann nur auf einer Seite sehen, das andere Auge ist verbunden. Ein halber Mann, auf einem Stuhl, mehr erkenne ich nicht. Wieder schlafen.

Etwas später, das Licht im Zimmer ist anders. Viele Menschen. Ich erkenne Dieter, er ist blass, Pietro, seine Frau, ein Mann in weißem Kittel. Alle reden gleichzeitig los und ich schließe lieber die Augen.

Beim nächsten Augenöffnen fühle ich mich besser. Die Kopfschmerzen sind weg. Dieter steht vor dem Bett, lächelt.
„Ausgeschlafen?“
„Hmmh.“ Watte im Mund.
Er reicht mir ein Glas Wasser.
„Wie fühlst Du Dich? Was ist passiert?“
„Holzbalken.“ murmle ich.
„Der Polizist, dessen Handy Du hattest, hat ein paar Fragen.“
Das war klar. Pietro wusste, dass ich geschlagen worden war. Als Polizist sah er das sofort.
Er kam kurze Zeit später, fragte natürlich erst wie es mir ginge, ob ich etwas bräuchte und kam dann ganz plötzlich auf den Punkt:
„Wer hat das getan?“
„Holzbalken. Ich hab nicht aufgepasst.“
Er sah mich lange prüfend an. Es arbeitete in ihm.
„Chiara……?“
Ich hob die Hand.
„Pietro, bitte. Schreib in Deinen Bericht einfach, ich bin gegen einen Holzbalken gelaufen. Auf meiner eigenen Baustelle, als ich etwas kontrollieren wollte.“
Er setzte mehrmals an, brach ab, kämpfte mit sich. Schließlich nickte er.
„Ok, du musst es wissen. Also ein Holzbalken. Aber sag diesem Mistkerl, noch einmal, dann kauf ich ihn mir!“
Noch einmal, lieber Pietro, dachte ich, noch einmal, und Du kannst eine Nummer ziehen, vor Dir sind dann Papa und meine drei Brüder dran.

Am Sonntag erklärte mir die Schwester, es sei kein Arzt da, und ohne Arzt könne sie mich nicht gehen lassen. Ich nickte verständnisvoll, wartete bis sie aus dem Zimmer war und wählte Dieters Nummer…

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… die Baustelle war gerade erst aus dem Winterschlaf erwacht, aber es hatte sich schon viel getan. Kleine Raupenbagger hatten das Grundstück freigelegt, die teils fast komplett mit Gestrüpp eingewachsenen Ruinen waren befreit worden und alles, was an Material umhergelegen hatte, war fein sortiert und geordnet aufgeschichtet. Hier alte Eichenbalken, dort Terrakottasteine, alte Dachpfannen, Mattone, usw. Man versucht immer, so viel wie möglich von den alten Baumaterialien wieder zu verwenden. Ich hatte die Gebäude bereits vermessen und die nächsten Wochen würde hier nicht viel passieren, zuerst musste alles auf dem Papier geplant und berechnet werden.
Diese Phase war die schönste am gesamten Projekt. Noch musste ich mich nicht mit Handwerkern streiten, über Preise feilschen und mich über nicht eingehaltene Termine ärgern.

Ich blieb einige Stunden, lief umher, hockte mich zwischen die alten Grundmauern, beobachtete die Sonnenstände zu verschiedenen Zeiten und kritzelte viele Seiten in meinem Notizbuch voll. Als die Sonne hinter der Hügelkette gegenüber versank und ich zu frösteln begann, machte ich mich auf den Heimweg.

Es war Dienstag und, wie schon so oft, hatte ich völlig vergessen, dass Stefano heute Abend für ein paar Tage nach Hause kommen wollte. Es fiel mir erst wieder ein, als ich vor meinem Haus ankam und sein Motorrad vor der Einfahrt stehen sah.
„Ciao amore“, begrüsste ich ihn.
Finsterer Blick. „Wo warst Du?“
So liefen die meisten unserer Begegnungen in letzter Zeit ab. Ich war froh, wenn er unterwegs war, er nervte mich mit seiner Eifersucht.
Ich kochte lieblos irgendetwas, er verzog sich vor den Fernseher und ich dachte wieder einmal an unsere Zukunft, wie eine Ehe mit ihm wohl aussehen würde.

Nachts träumte ich vom Borgo. Die Ruinen waren dunkel und ich irrte in fast völliger Finsternis darin umher. Ich sah Schatten, die mich verfolgten, und Lichter, die immer nur ganz kurz aufblitzen, und konnte keinen Ausgang mehr finden. Irgendwann schreckte ich hoch, atemlos, mein Herz raste und wieder einmal bekam ich Panik und rang gierig nach Luft bis ich sicher war, dass ich nicht unter Wasser war und verfluchte zum x-ten Mal meinen Tauchunfall, der mich immer noch so mitnahm.

Stefano schlief noch, und ich zog mir leise einen Pullover über und lief an den Strand – meinen üblichen Weg zum Leuchtturm. Die Situation war grässlich. Stefano ging mir auf die Nerven, meine Familie war nicht einverstanden, dass ich diesen Auftrag so weit weg angenommen hatte. Dieter war professionell und distanziert und erwähnte mit keinem Wort unsere damalige Begegnung. Die fast tägliche Fahrerei von hin und zurück knapp 300 Kilometern zerrte an meiner Substanz, aber eine Wohnung in den Marken zu nehmen ging auch nicht, denn dann hätte ich vermutlich auch noch meine zukünftigen Schwiegereltern auf dem Hals gehabt. Und irgendwo dazwischen stand ich. Und sollte dieses Borgo komplett restaurieren, was eigentlich meine gesamte Kraft erforderte. Mutlos sah ich weit raus aufs Meer und auf die Lichter der gerade vom nächtlichen Fang zurückkehrenden Fischerboote.

Mittwoch Abend waren wir bei Stefanos Eltern zum Essen. Donnerstag bei meinen Eltern auf dem Hof, um meinem Vater zu helfen, die Reben auf die hoffentlich sonnige Saison vorzubereiten. Mit Vergnügen sah ich zu, wie sich Stefano bemühte, Interesse an dieser körperlich harten Arbeit zu heucheln und wie sehr es ihn anwiderte, sich seine weißen Jeans dabei völlig zu versauen.
Freitag war ich bei Pietro eingeladen und obwohl Stefano auch damit natürlich nicht einverstanden war, machte ich ihm doch klar, dass ich da auf jeden Fall hinfahren würde und vorher den ganzen Tag auf der Baustelle zu tun hätte.

Einladungen bei einer italienischen Familie folgen strengen Ritualen, an die man sich unbedingt halten sollte. Ganz wichtig, die vereinbarte Zeit. Ein „komm doch gegen acht“ bedeutet in nördlichen Gefilden, dass man spätestens um fünf nach acht da ist. Ab Verona und südlicher würde man den Gastgeber mit übertriebener Pünktlichkeit in den Wahnsinn treiben, rechnet er doch keinesfalls vor halb neun mit dem Besuch und richtet seine Vorbereitungen entsprechend darauf aus.

Da die Marken ja schon fast Süditalien sind, kam ich um viertel vor neun bei Pietro und seiner Familie an. Auch ganz wichtig, man betritt nie eine fremde Wohnung, ohne nicht mindestens zweimal „permesso“ (darf ich) zu murmeln. Dann vergeht eine gute halbe Stunde damit, alles, aber auch wirklich alles, am Heim des Gastgebers zu loben, die Kinder (die, egal wie klein, immer noch auf sein werden) zu bewundern, die mitgebrachten Geschenke zu verteilen und sich gegenseitig zu versichern, wie wundervoll es ist, dass man sich gerade heute trifft.
Pietros Frau war mir sofort sympathisch, eine echte italienische Mamma, fast so rund wie er, in Kochschürze, mit roten Wangen, die mich sofort abküsste und mit in die Küche nahm.
Ich weiß heute nicht mehr genau, was wir alles gegessen haben, aber es zog sich über Stunden hin. Pietro hatte mehrere Weine aus der Gegend aufgefahren, die wir – immer nur ein Tröpfchen – nach und nach probierten und diskutierten. Und, obwohl ich eine Winzertochter aus der Emilia bin, gestand ich ihm meine Liebe für die schweren und tiefroten Weine aus dem Conero, dem wohl bekanntesten Anbaugebiet seiner Heimat.

Stefano fiel mir erst wieder ein, als mich Pietros Frau fragte, wie denn meine Familienpläne aussehen würden, und ich erschrak kurz, ich hatte mein Handy im Flur gelassen, und vermutlich waren schon einige Kontrollanrufe von Stefano eingegangen. Ich holte es und legte es auf den Tisch und sah erleichtert, dass noch keine Nachricht da war. Pietro stutzte, schmunzelte kurz, holte ebenfalls sein Handy und sagte, eigentlich hätte er ja Bereitschaft, aber hier würde ja eh nie etwas passieren. Das er damit falsch lag, merkte ich leider erst ein wenig später.

Nach dem Dessert, dem caffè und einem langen Abschiedsritual saß ich irgendwann kurz nach Mitternacht endlich in meinem Auto und machte mich auf den Rückweg nach Marina di Ravenna. Die Autobahn war leer, ich war müde und so fuhr ich viel zu schnell um endlich nach Haus und ins Bett zu kommen. Kurz nach Rimini klingelte mein Handy. Stefanos Kontrollanruf kam spät, aber er kam zuverlässig. Ich nahm das Handy vom Beifahrersitz „Pronto“ fauchte ich in den Hörer.
Schweigen.
„Pronto!“ noch eine Spur schärfer.
„Pietro?“ klang es zögerlich fragend an mein Ohr.
„Wer ist da?“ Ich wurde sauer.
„Pietro, was ist bei Dir los, wir haben hier einen Wildschaden?“
Ich warf kurz einen Blick auf das Handy in meiner Hand. Es war nicht meins. Es war Pietros. Scheiße.
Ich hielt am nächsten Autogrill. Rief von Pietros Handy auf meinem an (womit ich ihn weckte), erklärte ihm, seine Kollegen bräuchten ihn, entschuldigte mich tausendmal und vereinbarte, ich würde morgen kommen, um die Geräte zurück zu tauschen.
„Äh, Chiara?“
„Ja?“
„Hier hat ungefähr fünfmal ein Tesoro (Schatz) angerufen, zumindest stand das so im Display, und jedes mal sofort aufgelegt.“

Toll, unter Tesoro hatte ich Stefano gespeichert, und der hatte Pietro dran gehabt. Der Abend konnte noch lustig werden.

Der Abend wurde nicht lustig. Ich war noch nicht ganz im Haus, da schoss Stefano auf mich zu und brüllte mich an.
Er nannte mich Hure, er wollte wissen, wie oft ich mit anderen geschlafen hätte. Immer wenn ich ihm den Abend erklären wollte, schnitt er mir das Wort ab. Und dann stellte er Regeln auf, verlangte, dass ich mein Projekt aufgeben sollte, Zuhause bleiben müsste, „wie sich das gehört“. Und dann sagte er etwas, dass mich so verletzte, dass ich nicht anders konnte, als auch ihm weh zu tun. Er sagte „ich werde Dir austreiben, eine Schlampe zu sein“. In diesem Moment zerbrach etwas in mir. Der Hass auf ihn, der in diesem Moment in mir aufstieg, war unbeschreiblich, so groß, dass ich mehrmals schlucken musste, um überhaupt wieder sprechen zu können. Und dann sagte ich ganz ruhig, und mit voller Absicht, ihm weh zu tun „ich habe letzten Sommer jemand kennengelernt.“ Meine Worte hingen lange zwischen uns. Er starrte mich an, weiß im Gesicht, mit einer Wut in den Augen, die mir Angst machte. Und als ich dachte, wir würden nun den Rest unseres Lebens einfach so dastehen und uns anblicken, schoss plötzlich sein Handrücken heran. So schnell, dass ich mich nicht mehr wegducken konnte und traf mich mit voller Wucht im Gesicht. Ich hatte das Gefühl, mein Kopf explodiert, noch während der Schmerz ein Feuerwerk an Lichtern und Sternen vor meinen Augen entzündete, schoss mir das Blut aus der Nase und ich torkelte in Zeitlupe rückwärts, bis mich die Mauer auffing, an der ich mich einfach nach unten rutschen ließ.
Stefano machte einen Schritt nach vorne, doch ich hob nur müde die Hand. Kurze Zeit später hörte ich die Haustüre ins Schloss krachen und den Motor seiner Ducati aufbrüllen. Und dann endlich kamen auch die Tränen und ich umschlang meine Beine und machte mich ganz klein und blieb einfach auf dem Boden sitzen und weinte…

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Kapitel 2

…ich fuhr durch die Hügel im Hinterland von Ancona, es war Ende Februar, aber bereits so warm, dass ich das Verdeck offen hatte. Ich war auf dem Weg zur Baustelle und genoss die Fahrt in vollen Zügen. Ich jagte den kleinen smart durch die kurvenreichen Straßen und jedes mal, wenn ein langsames Auto vor mir auftauchte drückte ich kurz auf die Hupe und schoss daran vorbei. Ich musste plötzlich an den Abend im Winter denken, als ich auf der Terrasse gesessen war und mich entschieden hatte, den Auftrag anzunehmen. Ich hatte nachts kaum geschlafen und Dieter am nächsten morgen bereits gegen 5 Uhr aus dem Bett geklingelt, um ihm meine Entscheidung mitzuteilen. Wir hatten uns seitdem oft gesehen, aber nie allein, zu viele Dinge mussten geregelt werden, so dass wir meist Anwälte, Geschäftspartner oder andere Mitarbeiter aus seinem Büro bei unseren Gesprächen dabei hatten.
Stefano war ausgeflippt, als er hörte, dass ich fast 150 km entfernt einen so langfristigen Auftrag begonnen hatte. Er wollte alles über die Firma wissen und unterstellte mir wie immer sofort, dass ein anderer Mann dahinter stecken würde. Und ich, ich war froh, so viel unterwegs sein zu können und legte viele Termine extra so, dass ich ihn möglichst wenig sah.

Die nächste Kurve nahm ich etwas zu schnell und die ESP-Lampe fing wild an zu blinken, während vor mir eine verrostete Ape auftauchte. Ich riss das Lenkrad nach links und scherte recht knapp vor dem entgegenkommenden LKW wieder ein, der sich mühsam den Berg hochschleppte. Ich dachte erst, dieses komische Geräusch käme aus dem Radio, aber es war die Sirene, die das Polizeiauto hinter mir eingeschaltet hatte. Mist, ich sah wegen des heruntergeklappten Verdecks nur das Blaulicht, aber nicht, was für ein Auto es war. Im Außenspiegel sah ich die Lichthupe wild aufblinken und nach einem knappen Kilometer wurde die Option, mich mit der Ausrede, ich dachte, das Ganze gelte nicht mir, davon zu kommen, immer kleiner. Also ließ ich das Auto langsam rechts am Fahrbahnrand ausrollen. Mein Verfolger hielt ein Stück hinter mir und ich erkannte erleichtert, dass es nur die Polizia Municipale war, Gott sei Dank keine Carabinieri.

Ich habe später in Deutschland immer wieder im Fernsehen gesehen, was man sich mit der dortigen Polizei alles erlauben darf. In Italien sollte man das lieber nicht tun. Speziell, wenn es sich um Carabinieri handelt. Sie tragen diese furchteinflößenden Uniformen mit den kniehohen Lederstiefeln und nehmen ihre tiefschwarzen Sonnenbrillen nie ab. Kommt man ihnen blöd, ist ganz schnell Schluss mit Lustig. Die „Gemeinde“-Polizei ist da etwas gemütlicher, aber man sollte wirklich nie respektlos sein. Unser Land verfügt über so viele wirre Gesetze, die niemand kennt und keiner versteht. Ein Kinderspiel für jeden Polizisten dich stundenlang festzuhalten, wenn er es darauf anlegt.

Der Polizist war ausgestiegen und kam von hinten zu mir heran. Ich ging die gängigen Ausreden durch, die kranke Mama, die dringend Medizin braucht, die Oma, die im Sterben liegt, dann fiel mein Blick auf meine nackten Beine. Ich trug Shorts an diesem Tag. Ich bin nicht eingebildet, im Gegenteil, ich laufe fast immer ungeschminkt rum, achte wenig auf meine Kleidung, bin meist von irgendeiner Baustelle schmutzig oder hab vom Rumklettern in Ruinen blaue Flecken. Aber meine Beine sind toll. Auf die bin ich stolz. Viele tausend Kilometer mit dem Rennrad in unseren Hügeln pro Jahr sorgen dafür, dass sie schlank und durchtrainiert sind. So stieß ich die Türe auf, und als er fast an meinem Auto war, schwang ich beide Beine parallel aus dem Fahrzeug, ließ einen Moment verstreichen und stieg dann ganz aus. Treffer! Er bekam sein Strahlen einen Hauch zu spät wieder aus dem Gesicht, als er versuchte, mich streng anzusehen.
„Guten Morgen, Ispettore.“ Ich nahm dabei die riesige Sonnenbrille ab, sah möglichst schuldbewusst drein und ließ meine Unterlippe leicht zittern.
„Guten Morgen, Signorina.“ Pokerblick.
Unsere Augen trafen sich, jeder versuchte, den anderen einzuschätzen, seine Möglichkeiten auszuloten.
„Werden Sie mich verhaften?“ Ängstlicher Blick.
Er zog die Augenbrauen hoch, starrte mich an, ließ den Blick rauf und runter wandern. Unsere Blicke trafen sich wieder. Und dann lachte er. Erst leicht, versuchte es zu unterdrücken, lief rot an, und dann platze es aus ihm heraus, ein dröhnendes, lautes Lachen, sein Schnurrbart zitterte und seine Augen füllten sich mit Tränen. Und als ich diesen gemütlich aussehenden Mann so sympathisch lachen sah, konnte ich auch nicht mehr, und ich fing ebenfalls an. Zwei Menschen, die sich kaputt lachten. Schließlich wischte er sich die Tränen ab und grinste mich an:
„Wohin wollen Sie denn so eilig?“
„Ich muss zur Arbeit, nach Montecarotto.“
„Und Sie sind spät dran?“
„Nooo.“ Ich dehnte es lang, dieses Nein. „Ich war nur….etwas in Gedanken.“
„Was machen Sie in Montecarotto?“
Und ich erzählte ihm von dem Borgo, dass ich gerade dabei war, die Gebäude zu vermessen, dass kein Mensch dort auf mich wartet, ich keinen Termindruck habe und einfach so zu schnell gefahren war. Und er erzählte mir von seinem Urgroßvater, der hier in der Gegend Wein angebaut hatte, und wir kamen auf die Unterschiede zur Emilia Romagna zu sprechen und fingen ein wenig an zu streiten, ob der Rosso Conero aus den Marken wirklich so viel mehr Körper als ein gut ausgebauter Sangiovese aus der Emilia haben würde und er beendete die Diskussion, indem er mir von seiner Frau erzählte, und dass ich gerne einmal zum Essen kommen sollte, am besten am Freitag und ich nahm das an, nachdem er mir die Fotos von seiner Frau und den drei Kindern gezeigt hatte.
Als ich weiter fuhr, waren Pietro und ich per Du und quasi schon fast alte Freunde.
Ich fuhr ganz anständig, solange Pietro noch eine Weile hinter mir herfuhr. Und als er dann im nächsten Ort abbog gab ich wieder Gas, um endlich zum Borgo zu kommen…

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…Wir waren zurückgefahren und saßen nun in der Bar gegenüber der Agentur, diesmal zusammen. Dieter redete seit fast einer Stunde auf mich ein, beschrieb mir das Konzept, den Zeitplan, das Budget für die Ausstattung und vieles mehr. Ich hörte kaum zu, die Gedanken in meinem Kopf flogen durcheinander und wenn mich etwas beschäftigt, kann ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren.
„Hörst Du mir eigentlich zu?“
„Siiiii.“ Scheiße, jetzt fing ich schon an wie diese Trulla in seinem Büro. „Si!“ schob ich nochmals bekräftigend hinterher.
Er nickte zustimmend und redete weiter. Und plötzlich fiel mir auf, dass wir die ganze Zeit Italienisch gesprochen hatten. Im Sommer, als wir uns kennenlernten, hatte sein Wortschatz noch nicht für so ausführliche Gespräche gereicht. Noch etwas, dass sich als weiterer Gedanke in meinem Kopf zu all den anderen Gedanken mischte. Ich musste nachdenken, dringend, allein.
Wir hatten uns nach dem caffè noch Wein bestellt und ich trank mein Glas in einem Zug leer.
„Es ist spät geworden, ich habe noch eine weite Fahrt.“
Prüfender Blick, dann griff er in seine Jacke und schob mir seine Visitenkarte zu.
„Hier, ruf mich an, ruf mich auf jeden Fall an, ja?“
Ich nickte. „Ja, ich ruf Dich an. Und Du hast meine Nummer in der Bewerbungsmail, die ich euch geschickt habe.“
Er wollte sich erheben, als ich aufstand, aber ich legte kurz meine Hand auf seinen Arm, drückte ihn sanft und schüttelte den Kopf.
„Ich melde mich bei Dir. Ciao. Bis morgen.“
Das „bis morgen“ war mir so rausgerutscht. Scheinbar war mein Unterbewusstsein schon weiter als ich.
Dann ging ich schnell aus dem Lokal. Ich wollte um alles in der Welt eine Abschiedsszene auf der Straße vermeiden. Zu unsicher war ich – waren wir beide – nach dem Abend am Leuchtturm.

Ich fuhr nur zwei Straßen weiter. Dann hielt ich nochmals an und speicherte seine Telefonnummer in meinem Handy ab. Ich nannte den Eintrag „Dieter M. – Kunde“, aus Vorsicht, denn Stefano hatte die blöde Angewohnheit, regelmäßig, wann immer er mein Handy in die Finger bekam, das Adressbuch und die SMS-Nachrichten auf verdächtige Inhalte zu durchsuchen. Ich gab mir immer Mühe, mein Handy nicht herumliegen zu lassen, aber ich vergaß es einfach zu oft.

Die autostrada war um diese Zeit leer, und ich hing meinen Gedanken nach. Da war dieses Projekt, das einfach wundervoll war. Ich würde sonstwas drum geben, es machen zu dürfen. Ich könnte mich austoben, ein ganzes Borgo komplett nach meinen Ideen zu gestalten. Der Ablauf bei einzelnen Häusern war oft nicht so spannend. Die Häuser wurden prinzipiell unrenoviert angeboten. Jeder Käufer hatte dann ganz eigene Vorstellungen. Es gab die Individualisten, die sich einen Lebenstraum erfüllten. Dieser Traum beinhaltete meist auch den Plan, soviel wie möglich selbst an dem Haus zu machen. Die Arbeiten, die sie selber nicht erfüllen konnten, um diese Chaoten herum zu planen, war nervenaufreibend. Dann gab es die Besserwisser. Sie kamen mit der Einstellung, dass italienische Produkte sowieso Müll sind und wollten von der Steckdose über die Heizanlage bis zu Fenstern und Türen alles aus Deutschland kommen lassen. Das war das Schwierigste. Die vorherrschende Meinung, im Süden ist ja alles ganz locker, verführt viele dazu, zu denken, sie könnten machen was sie wollen. In Wirklichkeit haben wir so viele Auflagen und Gesetze, dass diese Häuser, vollgestopft mit ausländischer Technik, keine Abnahmebescheinigungen bekommen und somit quasi unverkäuflich werden. Zudem machen solche Baustellen Probleme ohne Ende. Ein zweihundert Jahre altes Natursteinhaus schert sich nämlich wenig um deutsche Industrienormen. Der Schreiner vor Ort, der Fenster und Türen für diese alten Häuser anfertigt, weiß das, und er passt seine Produkte entsprechend an. Dass das billiger und schneller geht, ist diesen Kunden meist nicht zu vermitteln. Und dann gibt es natürlich noch die Käufer, die eine komplette Restaurierung möchten. Das macht am meisten Spaß, aber man muss jedes Detail mühsam mit den Kunden erarbeiten, was sehr zeitaufwändig ist.
Bei diesem Borgo war es anders. Ich würde die komplette Planung nach meinen Vorstellungen machen, erst wenn alle Details feststanden, würde es in den Verkauf gehen.
Und dann war da Dieter. „Dieter“ sagte das kleine Teufelchen auf meiner rechten Schulter. „Du machst das doch nur wegen ihm.“
Ich spielte das mal durch. Ich würde also meiner Familie sagen, dass ich die nächste Zeit einen großen Auftrag bearbeiten würde. Es war ja nah genug, um zu pendeln. Von Dieter müsste ich ja nichts erzählen. Warum auch, ich hatte nichts mit ihm, es war nie etwas passiert. Und ich war schließlich vernünftig genug, dass auch nichts passieren würde. Er hatte den damaligen Abend mit keinem Wort erwähnt, keinerlei Avancen gemacht, war sehr sachlich gewesen, professionell. Er war sicher nicht so bekloppt wie ich und hatte viel darüber nachgedacht, was damals los gewesen ist. War mit pochendem Herzen am Briefkasten gestanden, oder hatte nachts in die Sterne geschaut und an mich gedacht.
„Mistkerl,“ sagte ich plötzlich laut vor mich hin. Ihm war das wohl alles egal. Ich zwang meine Gedanken wieder zurück zum Thema. Da war auch noch Stefano, mein Freund, meine Sandkastenliebe. Allen war schon immer klar, dass wir zusammengehörten. Es wurde erwartet, dass wir bald einmal heiraten, eine Familie gründen. Es war so selbstverständlich, dass wir ein Paar waren, dass ich lange Zeit nie auf die Idee gekommen war, das in Frage zu stellen. Wenn ich den Auftrag annahm, dann war ich mindestens ein Jahr sehr intensiv damit beschäftigt, ich würde Dieter oft sehen und viel Zeit mit ihm verbringen. Und das gehörte sich nicht. Es sei denn, da war wirklich nichts. Diese Gedanken machten mich langsam verrückt und ich wurde ganz kribbelig.

Ich kam sehr spät zuhause an und hatte Hunger, war aber zu faul, mir etwas zu machen, und so öffnete ich nur eine Flasche Wein und setzte mich vors Haus auf die Terrasse. Die Bilder dieses Tages flogen durch meinen Kopf und ich versuchte sie abzustellen. Die Silhouette des Leuchtturms zeichnete sich gegen den klaren Abendhimmel ab und ich versuchte, mich ganz auf dieses eine Bild zu konzentrieren. Und dann hatte ich mich plötzlich. Ja. Das war der Punkt. Das Ergebnis waberte langsam aus meinem Unterbewusstsein hoch und ich musste grinsen. „Liebe Chiara,“ sagte ich laut zu mir selbst „wenn das heute nicht Dieters Firma gewesen wäre, würdest Du dann auch nur eine Sekunde überlegen, diesen Auftrag anzunehmen?“ Ha! Das war der Punkt. Ich ließ mir doch wegen Dieter nicht diese wahnsinnige Chance entgehen, ein ganzes Borgo zu restaurieren…

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… ich stolperte in das Büro und muss grässlich ausgesehen haben, denn die Frau hinter dem Schreibtisch am Eingang musterte mich mit hoch gezogenen Augenbrauen. Tätowierten hoch gezogenen Augenbrauen, wie ich feststellte. Es musste die sein, mit der ich gestern telefoniert hatte, denn genau so hatte ich sie mir vorgestellt. Die Haare etwas zu blond, die Schminke etwas zu dick, der Rock etwas zu kurz, die Absätze etwas zu hoch. Genau die Art Frau, die angeblich jeder schrecklich findet. Genau die Art Frau, die dir aber den Mann wegnimmt, wenn Du nicht aufpasst. Vielleicht sollte ich sie mal mit Stefano bekannt machen. All das ging mir in den wenigen Sekunden durch den Kopf, typisch für mich, meine Gedanken können jederzeit so wirr abschweifen, dass ich manchmal selber lachen muss.
„Vorstellungstermin, ähm, ich hab den Termin“, presste ich mühsam raus.
„Si“. Wieder dieses langgezogene Siiiiii. Ihr Blick sprach Bände. Kurzes Nicken, vage in Richtung einer halb offenen Tür. „Sie können da drin warten.“
Es war ein schöner Raum, sehr hoch, mindestens vier Meter, ein alter großer Schreibtisch aus dunklem Holz, der Boden gefliest mit Terrakotta, schöne, handgeschlagene Fliesen, keine Industrieware. Ein altes Gemälde, das die Toskana zeigte, erkennbar an den Zypressen, die es hier auf dieser Seite Italiens nicht so häufig gibt. Auf der Arbeitsplatte alles fein sortiert, keine Unordnung. Am Boden der typische Heizlüfter, der im Winter in jedem italienischem Büro steht, weil unsere Heizungen aufgrund eines völlig veralteten Gesetzes immer viel zu schwach ausgelegt sind. Mein Puls ging langsam runter und ich sehnte mich nach einer Zigarette. Auf dem Schreibtisch stand ein Aschenbecher, benutzt, wie ich feststellte. Rauchen ist in Italien auch in Büros verboten, völlig egal, wie groß das Unternehmen ist. Theoretisch darf selbst ein Einmannbetrieb nicht an seinem Schreibtisch rauchen, selbst wenn er sonst niemanden beschäftigt. Aber Theorie und Praxis liegen bei uns zum Glück oft weit auseinander.
Die Tür wurde aufgerissen, ein Mann hastete rein, setzte an, etwas zu sagen, erstarrte, blieb bewegungslos stehen, als hätte jemand die Pausentaste gedrückt. Ich war halb aufgestanden, starrte zurück, und so blickten wir uns eine ganze Weile einfach nur völlig dämlich an. Mein Herz hämmerte so sehr, dass ich jeden Schlag dröhnend in meinen Ohren wahrnahm und irgendwann ließ ich mich einfach kraftlos zurück auf den Stuhl sinken. Er war blass geworden, schloss dann sehr langsam die Türe, schob sie sorgfältig zu, versuchte Zeit zu gewinnen. Dann drehte er sich ganz zu mir um, blickte abwechselnd auf die Bewerbungsmappe in seiner Hand und auf mich und versuchte den Zusammenhang zu begreifen.
„Ciao Dieter.“
„Chiara…“ Kaum mehr als ein Flüstern
„Ich..“ mein Hals war so trocken, ich musste nochmals ansetzen, „Ich wußte nicht..“
Er hob die Hand, ließ sich schwer in seinen Stuhl fallen. Sah mich an.
„Ich wußte nicht, dass die Anzeige von Dir war.“
„Wärst du sonst nicht gekommen?“ es klang verletzend. Und so war es wohl auch gedacht.
„Dieter, ich… es tut mir leid.“ Ich stand auf, wollte gehen, raus, weg, irgendwas.
„Chiara, warte.“
Und dann: „Bitte.“
Da war es wieder. Dieser Zauber in seiner Stimme. Dieser Zauber, der mich auch im Sommer schon gefangen hatte, der mich so anrührte, etwas in mir weckte, von dem ich selbst nicht verstand, was es eigentlich war.
Ich sah ihn an, lange, wie damals. Und wie damals entschied ich mich gegen alle Vernunft und setze mich wieder hin.
„Ich kann nicht für dich arbeiten, Dieter, das geht nicht.“
Er sah mich wieder lange an, dann kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück.
„Hast Du Zeit, ich möchte Dir was zeigen?“

Wir nahmen seinen Wagen und fuhren schweigend über die kleinen Landstraßen. Wir wussten wohl beide, dass jetzt nicht die richtige Zeit war, um über den Abend am Leuchtturm zu sprechen. Er sah konzentriert auf die Straße und ich ließ meinen Blick über die Landschaft schweifen. Die Marken werden auch „die grüne Toskana“ genannt. Die Vegetation ist so üppig, dass selbst jetzt im Winter alles noch grün ist. Bis auf die weiten Felder natürlich, die ab August, wenn es zu heiß wird, abgeerntet sind. Um sich hier zurechtzufinden, muss man das System der Straßen kapieren. Es reiht sich Hügelkette an Hügelkette, in den Tälern sind die großen Straßen, auf denen man ewig unterwegs ist. Einheimische kreuzen die Hügel auf kleinen holprigen Straßen, die mehr aus Schlaglöchern denn aus Teer bestehen. Auf solchen Straßen waren wir unterwegs und schraubten uns immer weiter in die Hügel hinauf. Wir erreichten Castelplanio, ein kleines Dorf, wie alle Orte hier mit historischer Altstadt und Häusern, die so aussehen, als sei die Zeit vor 200 Jahren stehen geblieben. Kurz nach dem Ort bog er rechts ab, in einen Feldweg, der fast senkrecht nach oben zu führen schien. Der schwere Geländewagen schaukelte und sprang langsam über den Rest Straße, der hier kaum noch zu erkennen war. Eine Kurve noch, dann öffnete sich das Gelände plötzlich zu einem Plateau und wir standen vor einem kleinen Borgo. Ein Borgo ist eine Ansammlung Häuser, zu wenige, um sich schon Dorf zu nennen.
Ich stand beeindruckt vor dieser Ansammlung Ruinen. Es waren sechs oder sieben Häuser, ein paar Nebengebäude. Manche sahen noch ganz gut aus, das heißt, sie hatten noch Fensterhöhlen und ein paar morsche Balken, wo einmal das Dach gewesen war. Andere waren nur mehr ein paar Grundmauern, eingewachsen über die Jahre. Der Platz war traumhaft schön, wir waren so weit oben, dass man rundum in die Landschaft sehen konnte. Nach Osten bis an die Küste, das Meer bildete einen zweiten Horizont, sah aus dieser Entfernung ganz ruhig aus. Nach Westen konnte man tief in die Hügel und ganz am Ende bis zu den schroffen Ausläufern des Apennin sehen. Tief unter uns lag Castelplanio, der letzte Ort, durch den wir gefahren waren.
„Dafür habe ich das Inserat aufgegeben.“ Dieter. Ich schrak zusammen, hatte ihn für einen Moment ganz vergessen, so sehr war ich in die Magie dieses Ortes eingetaucht gewesen.
Er räusperte sich, sah mich wieder lange an.
„Wir haben das hier gekauft.“ Pause.
„Und, wenn Du möchtest, darfst Du es restaurieren.“…

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…Zuhause wählte ich ohne lange zu überlegen die Nummer in der Anzeige, wie immer kam mit dem Freizeichen der Adrenalinstoß und mein Herz pochte, tief Luft holen, dann wurde abgenommen.
„Pronto.“ Typisch gelangweilter Ton einer italienischen Sekretärin, der mit einem Wort ausdrückte „Du störst!“ (wobei auch immer).
„Chiara Ravenna“ flötete ich in den Hörer. „Ich rufe auf die Anzeige an.“
„Si.“ Sie sagte es langgezogen, ungefähr Siiiiiiiii.
„Ich rufe auf Ihre Anzeige an.“ flötete ich weiter.
„Si.“ Wieder langgezogen. Ich merkte, wie ich wütend wurde
„Sie suchen eine Architektin.“
„Si.“ Noch langgezogener. Ich stellte mir meine Finger vor, um ihren Hals gelegt.
„Nun, deswegen rufe ich an, um mich zu erkundigen.“
„Si.“ Noch langgezogener. In Gedanken schlossen sich meine Finger fest um ihren Hals.
„Nun, äh, ja, ist die Stelle noch frei?“ Sie verunsicherte mich; und ich hasste sie dafür.
„Einen Moment.“ Ok, sie konnte also mehr als zwei Worte. Eine Warteschleifenmelodie ertönte. Eine Minute, zwei Minuten, ich versuchte an meine Zigaretten zu kommen, dann, endlich:
„Pronto?“ wieder die gleiche Tussi.
„Wer ist für die Stellenausschreibung zuständig?“ keifte ich ins Telefon.
„Einen Moment.“ Wieder Warteschleife.

Wie ich schließlich doch irgendwann zu einem Termin kam, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich kurz davor stand, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden oder Amok zu laufen, aber, zu guter Letzt, ich sollte am nächsten Tag kommen.

Ich trank Wein an diesem Abend, Rotwein, unseren eigenen, und saß trotz der Kälte lange draußen, schaute in den Himmel, der Sturm hatte alle Wolken weggefegt, die Sterne glitzerten, der Himmel war wie aufpoliert. Gegen 23.00 Uhr summte mein Handy, es war Stefano, aber ich ging nicht ran, ich hatte keine Lust mit ihm zu sprechen. Und obwohl ich wusste, dass es wieder Streit geben würde, ignorierte ich auch die weiteren Anrufe, die bis 2 Uhr morgens bei mir eingingen.

Für die Fahrt in die Marken nahm ich den smart, ich wollte nicht protzig erscheinen. Die Marken sind wohl das Bundesland in Italien, das für die meiste Verwirrung bei Ausländern sorgt. Im Italienischen heißt es „Le Marche“, viele denken, das wäre Französisch und sprechen es „Lee Marschee“ aus, aber der Artikel ist Le (nicht les), und man spricht es „le marke“, zu Deutsch die Marken. Das einzige Bundesland, das in der Mehrzahl genannt wird. Es stammt vom Begriff Grenzmarken ab. War irgendwann einmal von einem Deutschen Kaiser besetzt, der irgendwo aus Franken stammte. Ich war verblüfft, in Deutschland zu sehen, dass die Haßberge in Franken landschaftlich den Marken sehr ähnlich sind. Klimatisch allerdings nicht.

Die Emilia Romagna ist meine Heimat, die ich liebe. Die Marken sind so etwas wie ein Liebhaber, eine geheime Liebe von mir, die ich gerne treffe, aber nicht viel darüber rede. Die Landschaft ist geprägt von Hügeln, die direkt am Meer beginnen. Anders als in der Emilia gibt es hier keine Ebenen, dafür wurde weniger gebaut, es gibt noch unzählige alte Häuser, ehemalige Gehöfte, die versteckt in dieser bezaubernden Landschaft liegen. Hier Häuser zu restaurieren, wäre ein Traum, eine Herausforderung, die ich nur zu gerne annehmen wollte.

Ich fuhr eine knappe Stunde auf der Autobahn und bog kurz vor Ancona ab in Richtung Hinterland. Ich fand die Adresse schon beim zweiten Anlauf. Die Agentur war in einem kleinen Ort, in Montecarotto, direkt an der Piazza. Ich war zu früh dran und daher fuhr ich ein paar Meter weiter. Schräg gegenüber der Firma war eine Bar und ich hatte so noch Zeit für einen caffè.

Es war ein sonniger Tag, die Wolken waren nicht zurück gekommen. Auf der Piazza waren ein paar kleine Geschäfte, ein paar Alte saßen auf einer Bank, ein Hund trottete gemütlich auf der Straße. Die Mauern waren frisch restauriert, vermutlich aus dem Erdbebenfond, unabhängig davon, ob ein Beben hier Schäden angerichtet hatte. Wobei die Seebeben, die häufig vor Ancona sind, ganz schön Schaden anrichten können. Ich betrat die Bar, es war dunkel darin, kaum Leute. Ich hatte die Türe noch in der Hand, als ich den Mann an der Bar sah. Er fiel mir auf, weil er groß war, sein blaues Hemd leuchtete in der tristen Umgebung. Er stand mit dem Rücken zu mir, aber ich konnte sein Gesicht im Regal hinter der Bar erkennen, die Flaschen standen in Nischen mit verspiegelter Rückwand. Es war der Deutsche! Der Adrenalinstoß brachte mich fast um. Noch hatte er mich nicht entdeckt und ich torkelte rückwärts wieder raus auf die Straße. Mir war schwindlig und ich lehnte mich um die Hausecke an die Wand. Meine Gedanken rasten, ich war fassungslos. Was machte er hier? Im Winter. In diesem Kaff. Er hatte erzählt, dass er oft in Italien war. Aber hier? Ich zündete mir mit zitternden Fingern eine Zigarette an und ging meine Optionen durch. In die Bar gehen, locker Hallo sagen. Im Erdboden versinken. Mich im Meer ertränken. Eine Ohnmacht vortäuschen und die Ambulanz rufen. Flucht. Flucht schien mir die beste Option. Ich spähte um die Ecke, ging dann schnell in Richtung meines Wagens. Da ging die Türe auf, ein blauer Hemdsärmel kam zum Vorschein. Er hatte das Gesicht nach innen gerichtet, vermutlich rief er noch einen Gruß zurück in die Bar. Und die einzige Möglichkeit zu verschwinden, bestand für mich darin, die Agentur zu betreten…

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… die Luft war kalt und roch nach Salz und Fisch und bis ich in der Bar ankam, war ich wieder durchgefroren. Paolo begrüßte mich mit einem breiten Lächeln und stellte unaufgefordert die Espressotasse unter die Maschine. Mein übliches Frühstück besteht immer aus einem Brioche (ein Hörnchen) und einem caffè; so wie bei fast allen Italienern. Ich schnappte mir die Zeitung und setze mich an meinen üblichen Platz.

In der Nische neben mir saß ein älteres Paar, Engländer, wie ich schnell hörte. Die kamen oft ausserhalb der Saison, weil ihnen das Wetter scheinbar egal war. An zwei anderen Tischen saßen ein paar alte Männer, die in ihr Kartenspiel vertieft waren und ab und zu zur Uhr schielten, um zu sehen, ob es schon spät genug war, endlich das erste Glas Wein zu bestellen. Der Fernseher an der Decke lief, wie meist von niemandem beachtet, vor sich hin und am Tresen standen einige Männer in Anzügen, die vor dem Büro noch einen caffè tranken und fast alle in ihre Handys starrten. Am Nebentisch kämpfte das Engländerpaar mittlerweile mit Carla, um eine Bestellung aufzugeben. Wie immer verstand Carla nichts von den paar Brocken Italienisch der ausländischen Gäste, und die Gäste konnten mit ihrem venezianischen Dialekt noch weniger anfangen. Ich grinste amüsiert vor mich hin und schaute dann wieder aus dem Fenster. Die Bar liegt genau gegenüber vom Strand und wie immer gab mir das triste Aussehen einen Stich, und ich sehnte mich nach dem Sommer, wenn ich morgens schon mit leichten Sachen draussen sitzen konnte. Ganz vorne, das erste Bagno, ist das von Mario, dort hatte ich den Deutschen kennengelernt, als ich ihn am Strand fast umgerannt hatte.

Ich winkte Paolo, dass er mir noch einen weiteren caffè machen sollte. Ich hatte es nicht eilig, ins Büro zu kommen. Es gab wenig zu tun im Moment. Die Idee, dass wir alte Häuser verkaufen, hatte ganz gut funktioniert. Die Idee, dass ich diese Ruinen als geometra dann umplane und die Restaurierung begleite, hatte auch gut funktioniert. Paolo, der andere Paolo, der Freund meines Vaters, der diese Idee hatte, hat nicht ganz so gut funktioniert. Wir hatten nämlich fast nur die Häuser verkauft, die uns gehörten. Was nicht schlecht war, denn wir hatten gedacht, die sind nichts mehr wert. Aber wir besaßen nicht endlos viele davon. Und Paolo hatte versprochen, neue Häuser zu suchen. Und er hatte uns von guten Kontakten erzählt, in Deutschland, von Agenturen, die die Käufer schicken würden. Leider machte er sich nie die Mühe, Häuser zu suchen und die Kontakte in Deutschland waren auch eher nicht ganz so gut. So setzte sich unser kleines Angebot fast nur aus dem zusammen, was mein Vater über Freunde oder Bekannte angeboten bekam. Mir gefiel das alles nicht besonders, denn entweder hatte ich richtig gut zu tun, oder ich konnte gleich wieder nach Hause gehen und auf unserem Hof mitarbeiten. Nur um Zeit totzuschlagen muss ich mich nicht in ein Büro setzen. Ich blätterte mit diesen trüben Gedanken gelangweilt die Zeitung durch, der Wetterbericht war unerfreulich, die politischen Nachrichten las ich eh nie, und als ich die Zeitung gerade angewidert wegschieben wollte, fiel mein Blick auf eine Anzeige. Geometra/ Architekt gesucht, stand da. Erfahrung in Restauration erforderlich, Englisch Bedingung, Deutsch von Vorteil. Hm, ich kannte die Firma nicht, es war keine Adresse dabei, aber die Vorwahl war aus der Nähe von Ancona.

Paolo stand plötzlich mit der frischen Tasse vor mir und ich zuckte zusammen. Er grinste, tat so als hätte er nicht genau gesehen, was ich da gerade las und ging pfeifend zurück zu seiner Bar. Ancona, in den Marken, einem „Bundesland“ südlich der Emilia Romagna. Ich kannte die Gegend gut, hatte einige Freunde dort.

Als ich auf der Straße stand, peitschte mir der Regen ins Gesicht und als ich zurück in die Bar schaute, sah ich die Zeitung immer noch an meinem Platz liegen und sie schien plötzlich riesengroß, wie ein Plakat und mir ging plötzlich der Gedanke durch den Kopf, wie viele ausgebildete Architekten mit Erfahrung in Restaurierung und mit Deutschkenntnissen es hier in der Gegend wohl geben wird. Vermutlich keine drei. Und ein bisschen Abstand zu Stefano würde mir auch gefallen, und so stiess ich die Tür erneut auf, nahm mir Zeitung vom Tisch, ignorierte den grinsenden Paolo und duckte mich dann unter dem Regen, um ins Büro zu kommen.

Im Büro war nichts los und so ging ich nach ein paar Minuten wieder nach Hause zurück. Den ganzen Nachmittag lag die Zeitung auf dem Tisch und ich versuchte, sie zu übersehen. Gegen 15.00 Uhr fiel mir endgültig die Decke auf den Kopf und ich ging zum Strand. Es war den ganzen Tag nicht richtig hell geworden, die Wolken standen bedrohlich dunkel ganz dicht über dem Meer, die Wellen peitschten wütend über die Felsen. Der Strand war übersät mit Treibholz, toten Fischen und Abfall, den die Schiffe weit draußen einfach über Bord kippten. Der Sturm trieb mir Tränen in die Augen und ich torkelte mehr als ich lief. Wie immer kam ich irgendwann am Leuchtturm an. Er ist schon lange nicht mehr in Betrieb, seine Mauern sind vom Salz zerfressen und mit Algen bewachsen. Aber er steht immer da, er trotzt jedem Sturm und er gibt mir dieses beruhigende Gefühl von Sicherheit. Wenn ich meine Hände auf seine alten starken Mauern lege, erzähle ich ihm oft, was mich beschäftigt oder bedrückt; er kennt alle meine Geheimnisse, Wünsche, Sorgen, und er hat schon viele Tränen von mir aufgefangen. Hier hatte ich auch den Deutschen das letzte Mal gesehen, als ich ihn zurückgestoßen hatte. Und kurz kommt wieder dieses Gefühl von damals in mir hoch, diese Mischung aus Verzweiflung, Trauer und Wut.

Als ich auf dem Rückweg bin, weiß ich, dass ich noch heute die Nummer in der Anzeige anrufen werde…

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…der Sommer war relativ belanglos vorübergegangen. Ende September waren die letzten Interessenten weg, denen ich Häuser zeigen konnte, und als die Strandbäder, Boutiquen und Strandzubehörläden geschlossen waren, kehrte Ruhe ein, in meinen kleinen Ort.
Ich konnte jetzt nicht mehr wie gewohnt am Strand frühstücken und wich schon morgens in die kleine Bar aus, in der ich normalerweise erst am Nachmittag einen aperitivo zu mir nahm. Es war jeden Morgen das gleiche Bild, ein paar der Alten saßen schon jetzt beim Kartenspielen, ein paar Geschäftsleute nahmen ihren Caffè und ihr Gebäck an der Bar. Da wir unter uns waren, war es Paolo egal, wer in seiner Bar rauchte, obwohl darauf eine exorbitant hohe Strafe stand.

Im November wurde das Wetter richtig schlecht, die Herbststürme kamen, und mit ihnen Regen und Kälte. Die Strände waren abgebaut, was sich die Urlauber gar nicht vorstellen können, die wohl denken, es sieht das ganze Jahr gleich aus. Jede Wegplatte, jeder Schirmhalter, einfach alles, wird im Herbst abgebaut. Selbst wenn im Oktober noch sonnige Tage sind, kein Italiener käme auf die Idee, sich bei unter 30 Grad am Strand aufzuhalten. Die Strandcafés werden mit Brettern verschalt und zuletzt kommen die Bagger, die hohe Sanddünen aufschaufeln, um das Wasser daran zu hindern, den Ort zu überschwemmen.

Alles ist so ruhig, so friedlich, so langweilig. So sehr uns die ganzen Besucher in der Saison auch stressen, wenn der Trubel plötzlich abbricht, legt sich eine Art Melancholie über den Ort. Alle, die irgendwie vom Tourismus leben, wissen erst einmal nichts mit sich anzufangen.

Ich schrecke hoch, weil der Sturm einen Fensterladen mit voller Wucht gegen die Hausmauer geschlagen hat, und das Adrenalin lässt mich keuchend atmen. Ich versuche, meine Uhr abzulesen und kriege, wie immer, wenn ich im Dunklen aufwache, kurz Panik, bis ich sicher bin, nicht unter Wasser zu sein und atmen zu können. Es ist halb sechs und draussen noch stockfinster. Ich taste neben mich, bis mir einfällt, dass Stefano nicht hier ist. Er leistet seinen Militärdienst ab und ich schäme mich wieder einmal dafür, darüber froh zu sein.

Es ist kalt in meinem kleinen Haus. Ich habe weder isolierte Wände noch Fenster, die das Haus warm halten würden. Diese Häuser direkt am Meer sind für den Sommerurlaub gebaut worden, nicht um darin das ganze Jahr zu leben. Ich wickle mich in die Bettdecke und fasse den Heizkörper an, der eiskalt ist. Fluchend gehe ich nach unten um caffè zu kochen, einschlafen kann ich sowieso nicht mehr.

Als es endlich hell wird, sitze ich beim dritten caffè und schaue auf das Meer, das dunkelgrün unter einer dichten Wolkendecke hohe Wellen schlägt. Der Tag wird trüb bleiben und ich versuche, mich an den Sommer zu erinnern, als es heiß war und ich morgens nicht wusste, wie ich den Tag überstehen soll, bei fast 40 Grad. Und dann fällt mir, wie immer, wenn ich an den Sommer denke, der Deutsche wieder ein. Und ich überlege, was er wohl gerade macht. Seit dem Abend am Leuchtturm war er mir nicht mehr begegnet. Weder am Strand, noch vor einem der Hotels, die ich unauffällig abgelaufen war, in der Hoffnung, eine zufällige Begegnung zu provozieren. Ich wusste nichts von ihm, keinen Nachnamen, keine Telefonnummer, keine Adresse. Nicht mal, aus welcher Stadt er war, wir hatten so viel geredet, aber diese Dinge völlig vergessen. Er kannte immerhin meine Anschrift, wir hatten mein Auto bei mir geholt, und manchmal, wenn ein Brief mit unbekanntem Absender im Briefkasten lag, ertappte ich mich dabei, wie mein Herz anfing zu pochen, und ich einen kurzen Moment dachte – nein, hoffte – es sei ein Brief von ihm.
Ich hatte Stefano nichts von meiner Begegnung erzählt, aber natürlich hatte er es erfahren, in einem so kleinen Ort kann man nichts geheim halten. Und ich hatte gelogen, hatte gesagt, es war ein Kunde, der ein Haus umbauen möchte und er hatte getobt, weil ich abends nicht mit Kunden unterwegs zu sein habe, und wir hatten einen der größten Streits gehabt, an die ich mich erinnern kann. Und als er mich Hure geheissen hatte, schmiss ich eine volle Weinflasche nach ihm, die an der Wand zerbarst und wenn man genau hinsieht, dann schimmert die rote Farbe der Trauben immer noch ein wenig durch die frisch gestrichene Stelle durch.

Als ich die Gastherme endlich wieder zum Laufen bekomme dusche ich endlos lange kochend heiß, bis ich endlich aufhöre zu frösteln. Ich werde später ins Büro fahren, aber vorher, wie jeden Morgen, zu Paolo in die Bar gehen, um die neuesten Gerüchte zu erfahren, einen caffè zu trinken und etwas zu essen. Ich hatte keine Ahnung, welche Überraschung mich in der Bar erwarten würde…

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… wir gehen nebeneinander her und reden beide nichts, und als das Schweigen irgendwann unangenehm zu werden beginnt, sagt er plötzlich: “Du bist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen.“ Einfach so, er sagt es nicht herausfordernd, oder wie man ein Kompliment macht, sondern es ist eine Feststellung. Ich drehe meinen Kopf und sehe ihn an, und schließlich treffe ich eine Entscheidung und wir gehen zu meinem Haus und holen meinen Wagen und fahren ein Stück die Küste runter. Es ist sternenklar und wir haben das Dach offen und der Fahrtwind ist fast einen Hauch zu kühl, aber ich genieße die Luft, die nach Salz und Algen riecht und schließlich erreichen wir den kleinen Ort.

Hier gibt es keine Touristen, weil hier keine Hotels und Apartmenthäuser gebaut wurden. Direkt an der großen Fahrrinne, die das offene Meer mit dem großen Industriehafen in Ravenna verbindet, wollte niemand Hotels bauen. Vorgelagert, direkt am Meer, ist der Fischerhafen. Wegen der großen Tanker, die hier fahren, gibt es keine Brücke und wir nehmen die Motorfähre, die im 10-Minutentakt den Kanal überquert.

Wir laufen durchs Centro und in den kleinen Gassen steht noch immer die schwüle Luft des Tages und der Wind hat wieder zugenommen, so dass wir uns dicht an den vermoderten Hauswänden entlang bewegen, um etwas Schutz zu finden. Meine Kopfschmerzen sind zurückgekommen und mir ist leicht schwindlig vom Wein und vor Hunger.

Das Restaurant liegt versteckt in einer Seitengasse und wir stemmen uns gegen die Türe und als wir das Lokal betreten ist es auch hier schwül und stickig, aber diesmal ist der Lärmpegel gering, weil die meisten Tische unbesetzt sind. Wir setzen uns in eine Nische und er nimmt sofort die Speisekarte in die Hand, während ich mich umsehe und mir eine Zigarette anzünde. An solchen Orten schert man sich wenig um irgendwelche Gesetze aus Rom und der Wirt, der mich kennt, bringt unaufgefordert einen Aschenbecher und sieht uns fragend an. Ich strahle ihn an an und sage ihm, dass ich großen Hunger habe und er nickt und fragt, wie wir unseren Wein möchten. Fermo oder frizzante, niemand würde hier auf die Idee kommen, eine Flasche zu bestellen, es gibt nur offenen Wein aus den Hügeln hinter Ravenna. Er geht davon und mein Begleiter sieht mich fragend an und ich erkläre ihm, dass wir Fisch bekommen, weil es hier nur Fisch gibt und wir uns überraschen lassen.

Der Wein ist eiskalt und der Krug außen angelaufen und bevor ich einschenke, drücke ich meine Stirn an das kühle Glas und schließe kurz die Augen und dann trinken wir, während der Wirt uns die ersten Teller bringt. Wir essen kleine frittierte Sardinen, Seeschnecken, Muscheln, immer kleine Portionen, meist kalt zubereitet und als die Babycalamaris vom Grill kommen tauche ich mein Gesicht ganz tief über den Teller und atme den Duft ein, eine Mischung aus Meer, Gewürzen, Knoblauch und Weißwein, seufze und fange an zu essen. Wir schenken uns das übliche Bla Bla und reden über Essen, Kunst, Gedanken und Gedichte und als wir den dritten Krug Wein geleert haben und alle Teller aufgegessen sind, sitze ich schweigend da und nippe an meinem Caffè, wir schauen uns in die Augen und ich weiß nicht was es ist, was mich so fasziniert und anzieht und dann lausche ich wieder seiner Stimme, die mich verzaubert und plötzlich möchte ich raus und dränge zum Aufbruch.

Beim Hafen gibt es kleine Bar, eigentlich ein richtiges Dreckloch, es kommen fast nur Fischer her, die sich entweder noch ein Gläschen gönnen, bevor sie aufs Meer fahren, oder einen erfolgreichen Fang begießen, bevor sie nach Hause gehen. Sie liegt direkt gegenüber dem Pier und sieht von außen immer so aus, als ob sie geschlossen wäre. Drinnen ist es schummrig, die Einrichtung ist alt und es riecht immer etwas nach Fisch, Meer und Seetang. Der alte Holzboden ist vernarbt und von den Wänden bröckelt an manchen Stellen der Putz ab. Ich liebe diesen Ort, er strahlt etwas Mystisches aus, ich habe schon viele Nächte hier verbracht, mit Freunden, und auch allein. Hier wurden große Fänge gefeiert, hier haben Angehörige schon tagelang gewartet, wenn eins der Schiffe bei einem Sturm nicht mehr heimgekommen ist, hier wurden Geschäfte abgeschlossen, Geburtstage gefeiert und den vielen Toten gedacht, die auf See geblieben sind.

Luigi lächelt mir kurz zu und wir setzen uns an einen der kleinen Tische. Ich bestelle Wasser, wie immer ohne Kohlensäure. Der Deutsche war anfangs ziemlich irritiert, aber er spürt wohl, dass das für mich ein besonderer Ort ist, den ich nicht mit jedem teile und er nimmt meine Hand und drückt sie und ich spüre eine Wärme durch meinen Arm fließen und erwidere den Druck leicht und lächle, und zum ersten Mal an diesem Tag sind meine Kopfschmerzen endlich völlig verschwunden.

Wir sind zurück gefahren, schweigend die ganze Zeit, und ich parke ein Stück von meinem Haus entfernt und wir laufen über den Strand, meinen Weg zum Leuchtturm. Es ist jetzt sternenklar, der Vollmond zieht eine lange Spur aus flüssigem Silber über das Wasser, das sich wieder beruhigt hat. Der Leuchtturm hebt sich als majestätische Silhouette vom Nachthimmel ab. Bis auf das gelegentliche leise Tuten der Fischerboote weit draußen ist es so still, so bezaubernd.
Wir sind stehen geblieben und ich sehe ihn wieder an, diese Augen, und er umarmt mich, ganz vorsichtig, und dann berühren sich unsere Lippen und mir wird heiß und als ich eben meinen Mund öffnen will, um ihn ganz zu spüren, da schießt ein Film durch meinen Kopf, von meiner Familie, ich denke an den Weg, den ein italienisches Mädchen vorgezeichnet bekommt, an Stefano, den ich heiraten soll, seit ich fünf bin, an die auferlegten Verpflichtungen und an die strengen Regeln, die sich keiner vorstellen kann, der nicht in einer alten italienischen Familie aufgewachsen ist. All das spielt sich in Sekunden ab, ich sehe Gesichter, die den Kopf schütteln, Blicke, die mich strafen – und als seine Zunge sanft an meinen Lippen spielt, versaue ich es, schiebe ihn weg und sehe seinen bestürzten Blick und ich will es ihm erklären, ihm sagen, was in mir vorgeht, aber mein Herz ist plötzlich in dickes Eis gepackt und ich bin so traurig und so verletzt und so wütend, dass ich kein Wort sagen kann, und er deutet das Funkeln in meinen Augen falsch und versucht zu sprechen, aber er bricht ab, sieht mich lange an und dann dreht er sich um und geht den Weg zurück, während ich wie versteinert stehen bleibe und ihm nachstarre und ich würde gerne heulen, aber es kommen keine Tränen und irgendwann lasse ich mich mit dem Rücken an der Wand des Leuchtturms einfach nach unten rutschen und vergrabe mein Gesicht in meinen Armen und hoffe, dass dieses Gefühl irgendwann wieder nachlässt…

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…ich dusche mich zum dritten Mal an diesem Tag, und als ich aufs Meer schaue, ist es dunkelgrün und an manchen Stellen fast schwarz und ganz kurz kommt die Erinnerung an meinen Unfall in mir hoch, die ich aber sofort wieder unterdrücke. Ich habe Hunger und  Kopfschmerzen und bin immer noch müde und trinke einen weiteren caffè und merke, dass ich kein Aspirin mehr habe. Wegen des Sturms muss ich alle Fenster zulassen und die Luft ist so drückend, dass man kaum atmen kann und ich beschließe auszugehen und etwas zu essen.

Draußen ist die Luft jetzt klar und kühl und der Sturm kitzelt auf der Haut. Ich laufe Richtung Centro und amüsiere mich wie immer ein wenig über die Touristen, in ihren kurzen Hosen und bunten Hemden, und versuche mir vorzustellen, ob sie zuhause auch so durch ihre Städte laufen und muss lachen.

Eigentlich will ich zu Da Carlo, aber es ist noch viel zu früh für ein Abendessen und außerdem hatte ich völlig vergessen, dass die Saison schon läuft und die Lokale alle voll sein werden mit Urlaubern, die viel zu früh und viel zu hektisch die Plätze stürmen.

So gehe ich zuerst in eine Bar und finde tatsächlich einen freien Tisch und winke Paolo, dem Wirt, zu und ganz kurz blitzt ein Lächeln in seinem Gesicht auf, aber er hat Stress und muss sich wieder seiner Arbeit zuwenden. Am Nachbartisch sitzen einige Ausländer, die alle Sonnenbrand haben und ziemlich fertig aussehen, vermutlich waren sie den ganzen Nachmittag am Strand und haben dem Sandsturm bis zum bitteren Ende getrotzt. Sie winken der Bedienung und als sie bestellen, höre ich, dass sie deutsch sprechen und als Carla sie nicht versteht, wechseln sie die Sprache und versuchen, mit ein paar Brocken italienisch zu bestellen, aber damit wird es noch schwerer, weil Carla aus dem Veneto stammt und einen Hundsdialekt spricht, den ich selbst kaum verstehen kann. Ich muss wieder grinsen, denn eigentlich mag ich die Deutschen und die Österreicher gerne. Man sieht ihnen an, wie sie sich freuen, dass sie Urlaub haben, am Meer sein dürfen für kurze Zeit, das Wetter genießen, und ich mag die Väter, die plötzlich Zeit haben für ihre Kinder und ihnen alle Wünsche erfüllen. Schlimm ist es im August, wenn die Römer und Mailänder ans Meer kommen. Die sich dann im eigenen Land benehmen, als wären alle Menschen, die nicht aus diesen Metropolen stammen, nur Sklaven, die ihnen den Platz an „ihrem“ Meer wegnehmen.

Paolo kommt an meinen Tisch und bringt mir unaufgefordert ein Glas Weißwein und ein paar Kleinigkeiten als aperitivo, ein paar Weißbrotecken mit Wildschweinpastete, Erdnüsse, Oliven und etwas Käse, Pecorino, den ich besonders mag. Am Nachbartisch werden Hälse gereckt, die anderen verstehen nicht, wie ich meine Bestellung so schnell hergezaubert habe. Da ich immer noch meine dunkle Sonnenbrille aufhabe, kann ich den Tisch ungeniert beobachten. Paolo wechselt ein paar Worte mit mir, beklagt sich übers Wetter, über die schlechte Saison und was weiß ich noch. Typisch Italiener halt, wir jammern immer, aber nur, um auch immer ein Gesprächsthema zu haben. Ich lächle ihn an, nippe an meinem Wein und frage ihn, ob er ein Aspirin hat, worauf er mich fragt, ob ich spinne und kopfschüttelnd zurück in die Bar geht. Ich warte genau bis er in der Türe verschwunden ist und rufe ihn dann zurück, trinke mein Glas auf einen Zug leer, halte es ihm hin und sage lächelnd: „Un altro, grazie“. Er deutet eine Ohrfeige an, grinst und holt mir noch eins. Wir lieben diese Spielchen, damit vertreiben wir uns gerne die Zeit.

Dann laufe ich die Promenade entlang und rauche und hänge meinen Gedanken nach. Während der Saison ist es ziemlich einsam für mich, meine Freunde sind entweder in die großen Städte, nach Bologna, Modena oder noch weiter gegangen, um Arbeit zu finden. Die, die noch hier sind, arbeiten fast alle bei ihren Familien in der Gastronomie, und das heißt während der Saison die ganze Woche, sieben Tage, zwanzig Stunden am Tag, keine Pause, keine Zeit. Bis September, dann beruhigt sich wieder alles. Aber es stört mich nicht, ich habe normalerweise auch genug zu tun, außer wenn es so heiß ist wie jetzt, dann mag ich es gern etwas ruhiger. Während ich so darüber nachdenke, nähere ich mich dem Leuchtturm, und trotz des aperitivo habe ich nach wie vor Hunger. Der Wind bläst mir die Haare so ins Gesicht, dass ich fast blind laufe, und da die Sandkörner wie Schmirgelpapier fliegen, setze ich trotz der Dämmerung meine Sonnenbrille wieder auf. Am Leuchtturm schaue ich aufs Meer, die Dunkelheit kommt schnell am Meer, eben war es noch dämmrig, schon ist es Nacht. Der Sturm hat alle Wolken weggeblasen und der aufgehende Mond taucht das Wasser in ein schimmerndes Licht, das aussieht wie flüssiges Silber. Ich bin gern nachts am Meer, warte, bis die Fischer rausfahren und sehe den Lichtern zu, wie sie am Horizont verschwinden – aber heute ist es einfach zu windig.

Ich gehe zu Da Carlo, der den besten Fisch an der ganzen Küste zubereitet, aber schon in der Türe mache ich kehrt, das Lokal ist gerammelt voll und die Luft zum Schneiden dick. Ich würde bei Carlo immer einen Platz bekommen, notfalls könnte ich in der Küche essen, denn Carlo ist mein Onkel, aber der Lärm lässt meine Kopfschmerzen wieder aufflammen und ich dränge mich durch die nachströmenden Menschen zurück ins Freie. Ich schiebe und drängle mich langsam nach draußen, und als ich endlich wieder etwas von der kühlen Abendluft in die Nase bekomme, renne ich zum zweiten mal an diesem Tag voll in den Deutschen, der mir den Wein angeboten hatte.

Ich nicke kurz und setze mich in Bewegung und gehe zurück in Richtung Straße und er ruft mir nach, ob ich einen Moment Zeit habe und ich denke: „Geh weiter, dreh dich nicht um, geh einfach weiter“, aber irgendetwas in seiner Stimme rührt mich an, und obwohl ich weiß, dass ich es nicht tun sollte, und obwohl alle Sirenen in mir aufheulen, bleibe ich dennoch stehen und drehe mich langsam zu ihm und weiß in dem Moment ganz genau, dass ich einen großen Fehler mache…

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